Neuanfang

Du erinnerst dich an damals. Du erinnerst dich an die Grenzen, daran, dass du dasselbe Foto in deinem Unterhemd versteckt hast. Jedes Mal nach den Bombenangriffen hast du deinen Herzschlag gespürt... Eine Geschichte über das Erinnern und einen neuen Anfang

Neuanfang

Du gehst die Straße entlang. Schritt für Schritt. Du versuchst schneller zu laufen, aber dein Bein will nicht mitmachen. Du siehst die Bäume an der Straße. Eine Sekunde schaust du ohne zu blinzeln, du hörst zu. Nach einiger Zeit erreichst du ein großes Gebäude, dessen Fenster so hell erleuchtet sind, dass die Straße gegenüber in der Nacht strahlt. Du drehst dich um und entdeckst dein eigenes Blut auf dem Weg, den du gekommen bist. Dein Blick folgt der Spur bis zu deiner Hose, die wegen deines Blutes kaum mehr als eine grüne Uniform erkennbar ist. Dann schaust du auf das Gebäude und siehst die Krankenwagen, die davor geparkt sind. Du holst deinen Geldbeutel aus deiner Hosentasche. Ein vergilbtes Foto: eine Frau mit einem Kind in den Armen. Du steckst den Geldbeutel wieder ein und gehst weiter geradeaus, bis die Straße wieder ganz dunkel wird.

Du erinnerst dich an damals. Jetzt kannst du schneller laufen. Du erinnerst dich an die Grenzen, daran, dass du dasselbe Foto in deinem Unterhemd versteckt hattest. Jedes Mal nach den Bombenangriffen hast du deinen Herzschlag gespürt. Hast das Papier auf deiner Haut gefühlt, wie es die Muskeln deiner Brust bewegt haben. Dann konntest du wieder atmen und dein Herz beruhigen. Du gehst weiter und schaust nach vorne.

In der Dunkelheit erkennst du einen etwas älteren Mann mit einer grünen Uniform. Du freust dich. Er sagt: „Schöner Wollmantel!“

„Danke.“

„Hält der warm?“

„Ja.“

„Das letzte Mal hab‘ ich so‘ nen Mantel vor dreiundzwanzig Jahren gesehen. Im Urlaub. In den Bergen.“

„Schade, dass die Produktion bei uns nicht mehr läuft.“

„Bei Euch? In den Bergen?“

„Ich meinte am Meer.“

„Ach so! Dafür haben wir goldene Fischschuppenmäntel. Siehste nicht?“

„Doch. Steht Ihnen.“

„Bin zwar alt, aber immer noch Fischer! Wie mein Vater. Weißt du?“

„Interessant.“

„Der Fisch hat dein Bein aber zerrissen, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ich hab noch kein Schäferkind mit Angelrute gesehen. Könnt ihr es in den Bergen lernen?“

„Ich glaube, man kann es dort lernen.“

„Ach was!“

„Ich hab‘s hier gelernt.“

„Kein Wunder, dass du sieben glückliche Fische in deinem Kübel zu schlachten hast. Offizieller Fischer?“

„Nein.“

„Ich hatte es auch nicht einfach. Und bin als Fischer geboren. Das ist die Entscheidung der Fabrik. Nicht persönlich gemeint, aber die ist vorsichtig bei Schäfern.“

„Die ist nicht so toll.“

„Warste schon mal drinnen?“

„Nein.“

„Ich war vor fünfzehn Jahren da. Die Wände da haben so‘ ne Farbe. So diamantartig. Maschinen funktionieren wie Kettensäge. Und die Fische liegen schuppenlos auf der Produktionsband wunderbar nebeneinander.“

„Vor fünfzehn Jahren?“

„Ja. Siehste. Bin Uralt.“

„Uralt. Und Sie haben das Fischen verlernt.“

„Bitte?“

„Ihr Kübel ist leer.“

Er schaut dich an. Sprachlos. Neben euch ist eine Haltstelle. Eine Bahn kommt gerade und du steigst ein. Das grelle Licht des S-Bahn-Screens blendet deine Augen und sie werden gleich kleiner. Der US-Präsident hat erneut die weihnachtliche Stimmung an den Börsen getrübt. 06:23 Uhr. Auf zwei weiteren Sitzplätzen sitzen ein junges Mädchen und ein Mann. Das Mädchen hat die Schultasche auf den Beinen mit ihrem Heft darauf. Sie schaut eine Sekunde auf ihr Handy und schreibt etwas auf einen Zettel. Das macht sie ständig ohne Pause.

Der Mann neben ihr sieht durch das Fenster nach draußen. Er macht die Augen langsam zu und ein wenig später wieder auf. An der nächsten Station steigt ein dünner Kerl ein und plötzlich stinkt es überall nach vergammeltem Fleisch. Der Dünne läuft durch die Bahn. In seiner Nähe werden die Köpfe weggedreht und von hinten beobachten ihn alle. Die Bahn hält. Du gibst dem Obdachlosen zwanzig Cent.

Er sagt: „Mit zwanzig Cent kannst du doch selber einkaufen gehen. Mit zwanzig Cent bist du doch reich.“

Du steckst die Münze wieder in den Geldbeutel. Steigst aus. Die Treppen. Die Straße. Die Bushaltstelle. Ein betrunkener Mann an Weihnachten. Im Bus schreit er, er sei ein Schauspieler. Eine Frau neben dir riecht nach Alkohol und Desinfektionsmittel. Sie nimmt ihre Tasche zur anderen Seite, damit sie dein blutiges Bein nicht berührt. An der nächsten Haltstelle will sie aussteigen. Sie sagt zu dem Mann: „Passen Sie bitte auf, Sie sind sehr betrunken.“ Die Türen sind wieder zu. Er schreit: „Ich bin ein Schauspieler!“

Pause. Und ein Scheißmann. Du musst aussteigen. Du bist angekommen. Jemand wartet schon auf dich. Es gibt eine Klingel, eine Tür und eine Frau, die aufmacht und sagt: „Was ist passiert?“

„Er war hungrig nach meinem Blut.“

„Und du hast ihn einfach dein Bein zerreissen lassen?“

„Ich hoffe, es hat ihm geschmeckt.“

„Gib deinen Mantel her und setz dich.“

„Danke.“

„Kannst du nicht wo anders arbeiten?“

„Weißt du, was unser Kommandeur damals immer gesagt hat?“

„Dass man seinen vertrauten Ort wegen Gemütlichkeit nicht verlässt.“

„Ja. Hab‘ ich schon erzählt.“

„Mehrmals, sogar im Schlaf.“

„Ich hab‘ damals immer von euch geträumt, jetzt träume ich von ihm.“

Stille. Du stehst langsam auf.

Sie sagt: „Du sollst sitzen bleiben.“

Von hinten fasst sie dabei deine Schulter. Und. Plötzlich. Liegt sie auf dem Boden. Wegen einer Hand. Eine Hand außer Kontrolle, weil man die Schulter von hinten nicht anfasst. Das weiß sie doch. Hast du es nie erzählt? Eine Nase blutet. Du gehst zu ihr.

Sie sagt: „Ist in Ordnung.“

Sie sagt: „Du kannst jetzt schlafen gehen.“

Sie sagt: „Ich verstehe das.“

 

Diese Geschichte ist im Schreibtandem mit Natalia Grote entstanden.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Sorour-Keramat
Sourour war 16. als sie in Deutschland ankam. Die ersten zwei Jahre in Deutschland wohnte sie in mehreren Flüchtlingsunterkünften. Dort beobachtete sie das Unglück anderer Flüchtlinge, die aus verschiedenen Ecken dieser Welt in Deutschland Schutz suchten. Dass die anderen Menschen genau wie sie unter Heimatlosigkeit leiden und jeden Tag ein Stück von ihrer Identität verlieren, versetzte sie in tiefe Melancholie. Sie sah, wie schamlos Deutschland und andere europäischen Länder die Asylsuchenden abschieben und durch Europa treiben. Alle Herausforderungen, die die Geflüchteten in Deutschland und auf der Flucht haben, tragen dazu bei, dass sie heute Literatur als eine Form des Ausdrucks nutzt, um über das ganze Elend zu berichten.

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