Von Fremden und Freunden – Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen

Der aus dem Irak stammende Autor Junis Sultan setzt sich in "Glaubenskriege" mit seinem Lebensweg und seiner Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen auseinander.

Was sind die Kriterien zur Beurteilung von Menschen ‒ Menschen, die dunklere Hautpigmente haben, dunklere Augen, dunklere Haare? Die anders sind als wir, die Mehrheitsgesellschaft, die sich trotz (oder gerade wegen?) der gepriesenen Globalisierung immer mehr abkapselt? Klar ist, dass es Fremdenhass und farbig kodierten Rassismus nicht nur bei uns in Deutschland gibt. Es sind Begriffe, die bis in die aristotelische Antike reichen. Schwarz war schon immer eine „bösartige“ Farbe. Ein wenig verwundert mich, was Junis Sultan in seinem Buch „Glaubenskriege“, einer Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen, über seinen Aufenthalt in Kalifornien schreibt: Die USA seien ein Einwanderungsland (richtig). Dort habe man Respekt. Hautfarbe und Name spielten keine Rolle.

Das scheint mir trotz der dunklen Augen des Autors eine blauäugige Sicht der Dinge zu sein. Mag sein, dass es gerade während seines Aufenthalts und in seinem universitären kalifornischen Umfeld tolerant, offen und respektvoll zuging. Aber so, wie er für Deutschland die sozio-ökonomischen Verhältnisse von Immigranten ins Spiel bringt, so ist es in den Vereinigten Staaten nicht anders.

Das Buch ist ein „Sesam öffne dich“

Sein Buch, das er zur eigenen Heilung seiner Zerrissenheit, seiner Depressionen, seiner gefühlten Minderwertigkeit und Hilflosigkeit geschrieben hat, ist ein „Sesam öffne dich“ für andere, damit diese sich in die Welt der „Fremden“ einfühlen können, damit sie nachvollziehen können, was in in den Seelen angerichtet wird. Das beschreibt er ausufernd und für meinen Geschmack zu sehr im „Opfermodus“. Denn für mich sind seine Zerrissenheit, seine Ungeborgenheit, seine Einsamkeit primär ein familiäres Produkt. Wobei die äußeren Faktoren des deutschen Umfeldes und der deutschen Gesellschaft entsprechende Multiplikatoren sind.

Von England in den Irak und nach Deutschland

Eine Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen: Der Vater ist ein Iraker, der in England Maschinenbau studiert hat. Er lernte eine junge Deutsche, die sich dort als Au-pair aufhielt, kennen und lieben. Sie heirateten schnell ‒ nachdem er in den Irak zurückgekehrt war und sie nach Deutschland ‒, sozusagen „Hals über Kopf“ gegen den Willen der Eltern der jungen Frau.

Der Vater machte Karriere als Unternehmer in mehreren Fabriken. Er war umworben vom Regime und von Saddam Hussein persönlich sowie auch von ausländischen Investoren. Doch nie vergaß er seine bescheidene Herkunft: Immer war er bemüht, auch seine Mitarbeitenden an seinem Erfolg teilhaben zu lassen. Er kümmerte sich um Weiterbildung und Krankenversicherung, baute Wohnungen und Schulen. Die Familie lebte ein großbürgerliches Leben mit Bediensteten und in wohlhabender Sicherheit.

All das änderte sich 1991, drei Jahre nach dem Waffenstillstand des ersten Golfkriegs (zwischen Irak und Iran). Saddams Einmarsch in Kuwait und die strafende „Operation Wüstensturm“ der Amerikaner und ihrer Verbündeten beendete das gute Leben: Es gab nur die Option „fliehen oder sterben“. Die Mutter konnte mit ihren vier kleinen Kindern nach Deutschland ausreisen (die beiden großen Töchter waren schon verheiratet). Der Vater blieb im Irak, um die Geschäfte zu regeln und dem Baath-Regime keinen Grund für Repressionen zu liefern.

Ablehnung und Feindseligkeit in der Kleinstadt

Mutter und Kinder kamen bei Großmutter Erika, einer ehemaligen Lehrerin, in einem kleinen niedersächsischen Dorf unter. Die Großmutter war eine emotionale Stütze angesichts der Gereiztheiten der Mutter, die sich von diesem neuen Leben mit den Kindern überfordert fühlte. Der Umzug in eine kleine Stadt mit ca. 10.000 Einwohnern ‒ weiße Mittelschicht und 130 Asylbewerber ‒ brachte der Mutter zwar drei Jobs gleichzeitig.

Die Kinder aber spürten sofort die offene oder versteckte Ablehnung und Feindseligkeit in der Kleinstadt. Die Mutter wurde immer gehetzter und gereizter, wütender und verzweifelter. Sie schlug die Kinder, besonders Junis. Für ihren Frust gab sie dem Vater die Schuld: Iraker hätten keine Manieren, keine Kultur, keine Religion. Welche Manieren hatte sie, welche Kultur? Sie selbst war katholisch.

Der Vater, inzwischen im Ruhestand, kam endlich zu ihnen. Doch die Eltern stritten, beschimpften sich, umhüllten sich mit Feindseligkeit und Enttäuschung. Beide waren narzisstische Persönlichkeiten: Wer dachte an die Kinder und den seelischen Ballast, den ihnen dieses Elternhaus auflud? Im Irak sollen sie eine gute Ehe geführt haben. Mag sein, da stimmte zumindest das ökonomische Niveau. Ich finde es nur befremdlich, dass laut Aussage des Autors seine Mutter, als sie in den Irak kam und dort heiratete ‒ ziemlich jung noch und lebensunerfahren ‒ nichts wusste vom Irak, seinen Menschen, der mesopotamischen Kultur und natürlich auch nichts vom Islam. Der wurde nun einer der Streitpunkte: Er sei eine böse Religion.

Später, zum 48. Hochzeitstag, zog die Mutter aus: Sie sei immer unterdrückt worden, sie sei missbraucht worden und alle würden dafür beim Jüngsten Gericht bestraft werden. Alice Schwarzers Buch über den Islam lieferte schlagkräftige Munition: Unsere Toleranz dem Islam gegenüber entspringe dem schlechten Gewissen aufgrund der eigenen Geschichte, dem Islam fehle jede Menschlichkeit.

Zäsur 9/11

Nach der Zäsur des 11. September 2001 begann Junis Sultan Tagebuch zu schreiben. Er wandte sich dem Koran zu, lernte Arabisch, fand Zuflucht und Orientierung in der Religion seines Vaters. Immer wieder unterbrochen von den verbalen Ausrastern seiner Mutter: Sie wolle ein deutsches Baby adoptieren, wolle jemanden haben, der so sei wie sie. Ihre Kinder seien doch nur halb ihre Kinder.

Immer wieder driftete Junis ab in Selbstverleugnung und Selbstzerstörung, in Schmerz und Leere. Sein demonstratives Selbstbewusstsein war nur oberflächlich, abhängig von äußerer Anerkennung, von Zuneigung, vom Kampf (er boxte) und den schulischen Noten. Er sah sich als Versager in der deutschen Gesellschaft: wertlos, ungewollt, ungeliebt. Nach der Aufdeckung des NSU stand er kurz vor dem Suizid.

Schreiben als Therapie

Die Idee, ein Buch zu schreiben, um sich selbst zu retten und um anderen mit seiner Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen zu helfen und sie zu ermutigen, war der Ausweg für ihn. Seine Entscheidung, Lehrer zu werden, da Kinder Hoffnung und Zukunft seien, bescherte ihm zwei Stipendien, darunter eines von Fulbright für einen neunmonatigen Aufenthalt in den USA.

Nach seiner Rückkehr begann er ein zweijähriges Refendariat und gab Boxunterricht für Kinder. Bildung, ein integratives mehrsprachiges Schulsystem, ist für ihn der Schlüssel zu Integration. Denn Integration ist keine Einbahnstraße, das wissen die Politiker. Ansätze werden lautstark propagiert, aber wirklich geändert hat sich nichts. Dies ist gerade jetzt in den pandemischen Corona-Zeiten auffällig: Kinder aus den schwächeren sozio-ökonomischen Schichten (deutsche wie ausländische) sind die Verlierer.

Aufrüttelnde Lektüre

Junis Sultans Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen ist eine aufrüttelnde Lektüre, besonders für jene, die sich noch nicht intensiv mit den angesprochenen Problemen beschäftigt haben. Alle unsere Mitmenschen sind betroffen: die, die keinen vaterländisch-muttersprachlichen Namen tragen, deren Haut eine dunklere Pigmentierung hat, die einen anderen Glauben als den christlichen haben. Eine aufrüttelnde Lektüre auch für all jene, die vergessen, dass auch sie jederzeit zu „Fremden“ werden könnten: ein Kinderspiel in diesen Zeiten, sei es durch das Klima, sei es durch übereifrige Kriegstreiberei …

Ich denke an die so wunderbare Hymne aus Beethovens 9. Symphonie: Alle Menschen werden Brüder. Oder an das wunderbare biblische Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. (Wobei sich die Frage ergibt: Liebst du dich?). Oder auch an den Kant’schen Kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Und der Universalist Goethe schrieb: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“

Maximen für ein menschlicheres Miteinander

Das könnten lehrreiche Maximen sein für ein anderes, ein besseres, ein menschlicheres Miteinander. Hoffen wir, dass Junis Sultans Buch viele aufmerksame und nachdenkliche Leser und Leserinnen finden wird. Damit sein Einsatz gewürdigt wird, seine intimsten Seelenqualen offengelegt zu haben. Und hoffen wir, dass Leser und Leserinnen dieser Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen erkennen, dass Migration eine zivilisatorische Unentbehrlichkeit ist (Fernand Braudel). Denn wir lernen doch durch Austausch: menschlichen, kulturellen, wirtschaftlichen Austausch. Wer will schon stehen bleiben in seiner eigenen Entwicklung? Die ewig Gestrigen. Aber wir leben heute, im Hier und Jetzt und fast schon ein bisschen im Morgen.

Junis Sultan: Glaubenskriege. Von Fremden und Freunden. Aus dem Englischen übersetzt von Miriam Neidhardt. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2021. ISBN: 978-3-8260-7081-5. 24,80 Euro.

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