Menschen sind wie Verwandte von Vögeln. Sie verlassen ihr gemütliches Nest, damit sie in einer neuen Heimat ein neues Nest aufbauen können. Ich habe ein spannendes Gedicht von einer kirgisischen Dichterin namens Nuriza Ömurbaeva gehört, der übersetzt „Heimatlose Vögel“ heißt. In ihrem Gedicht vergleicht sie die Menschen mit den Vögeln. Am besten hat mich ein Satz berührt, den ich auf folgende Weise übersetzt habe: „Vögel, die ihre Heimat verlassen, bei denen ist es nicht bekannt, wann und ob sie überhaupt in ihre Heimat zurückkommen“.
Es klingt für mich wie eine Berührung mit dem Tod selbst. Oder leichter ausgedrückt mit dem geistigen Tod. Als ich zum ersten Mal meine Heimat verlassen habe, war es für gebliebene Menschen so, als ob ich in eine andere Welt ausgewandert war und sie mich nie wieder finden würden. Meine große Familie musste mich sprachlos und hilflos loslassen. Dieses Gefühl von Ohnmacht fühle ich immer noch selbst, wenn ich mich von ihnen verabschieden und nach Deutschland fliegen muss.
Während ein Vogel von einem Land ins andere Land fliegt, verbraucht er viel Energie. Es ist bei Menschen auch so. Bei Menschen ist es sogar noch komplizierter als bei Vögeln, weil wir denkende Wesen sind.
In dieser Kolumne möchte ich gerne über Übergänge zwischen meinen Reisen und psychischen Zuständen erzählen, die ich besonders anstrengend finde. Ein Gegenteil zu Übergängen sind dann Phasen im Leben, in denen ich im Prozess bin, das heißt, mein Leben fühlt sich fließend und weich an.
Übergänge zwischen Kirgisistan und Deutschland
Für mich sind Flugzeuge ein Symbol für Vögel, die Menschen erfunden haben, um ihr Bedürfnis nach Freiheit zu erfüllen. Eine Übergangsphase fängt für mich an, wenn ich weiß, dass ich in einer Woche Deutschland verlassen und nach Kirgisistan fliegen werde. Ich bin oft innerlich unruhig und versuche diese Unruhe mit Beschäftigungen aller Art zu kontrollieren. Ich gehe zum Beispiel viel zu oft einkaufen und gebe einfach mehr Geld, als es nötig ist, aus. Es kommen viele Gedanken durcheinander und es entsteht in meiner inneren Welt ein Chaos. Gedanklich bin ich schon in Kirgisistan, obwohl ich körperlich noch in Deutschland bin. Dann kommt endlich der Tag des Fluges.
Für mich ist es schon eine Erleichterung, weil ich dann in eine Sekte der Fluggesellschaft eintreten werde. Im Flughafen Gepäck abgeben und danach Abschied von begleitenden Person nehmen und durch Passportkontrollen gehen und anschließend im Wartebereich warten. All das fühlt sich an wie Rituale der Fluggesellschaft. Diese geben mir gewisse Erleichterung und Halt in diesen Übergangsphasen.
Von Flughafen Hamburg nach Flughafen Istanbul dauert es ca. 3 Stunden. Ich bin dann mit meiner Tochter in einem Flugzeug, in der Luft, im Himmel und nirgendswo auf der Erde. Es ist doch eine Mystik des Lebens! Eine kleine Gruppe aus Menschen aller möglicher Nationalitäten sitzen gemütlich im Flugzeug und sie versuchen, diesen Mini-Alltag im Flugzeug möglichst gut zu überstehen. Viele haben Angst vor Abstürzen. Ich habe es auch. Aber alle geben ihr Bestes und es herrscht ein gewisser Frieden.
„Ich werde dann in eine Sekte der Fluggesellschaft eintreten“
An Istanbuls Flughafen fühlte ich mich diesmal müde und ich wünschte, dass Istanbul Kirgisistan wäre. Ich mag lange Flüge nicht. Diesmal war ich eher enttäuscht, dass ich nach Kirgisistan fliege. Ich wollte aber auch nicht zurück nach Hamburg. Irgendwie wollte ich gar nichts. Dieses Gefühl war ein Zeichen von Müdigkeit, mich mit dem Thema ich und Heimat zu beschäftigen… Ich fühlte mich so, als ob ich irgendwo in einem Raum stecken geblieben bin. Vielleicht wäre ein drittes Land eine gute Lösung! Oder einfach in Istanbul bleiben oder noch besser, irgendwo anders hinfliegen?
Nach 6 Stunden Flug landeten wir in Bischkek, Flughafen Manas. Es dauerte sehr lange, bis ich mit meiner Tochter endlich eine Passkontrolle durchgegangen bin. Draußen warteten auf uns mein Bruder mit meinem Neffen. Wir fuhren zu unserem Elternhaus und unterhielten uns über belanglose Themen, wie meinen Flug und die Hitze in Bischkek.
„Irgendwie wollte ich gar nichts“
Ich war schon auf dieses Treffen vorbereitet. Ich hatte meine Haltung. Meine Haltung hieß „ich freue mich euch zu sehen, aber ich will mich nicht verstellen. Ich will keine Maske tragen“, weil ich an meiner Seite stehe und weiß, wie es verdammt emotional schwer ist, Deutschland zu verlassen und ins Heimatland zurückzukommen. Durch körperliche Müdigkeit wurde meine emotionale Sensibilität verstärkt. Ich wusste, dass meine Verwandten von meinem Zustand keine Ahnung hatten, weil sie mich mit deren Augen gesehen haben.
Ich hatte das Gefühl, dass sie die materielle Seite meines Lebens gesehen haben. Dabei fallen mir solche Begriffe ein wie Deutschland, Macht, Geld, Stärke, emotionale Kälte. Immer wenn ich da ankomme, fällt ihnen meine emotionale Kälte auf. Ich bin nicht so warm wie sie. Was heißt denn für sie Emotionalität? Heimatverlust? Langer Flug? Innerlich zwischen zwei Ländern und Kulturen zerrissen zu sein?
„Ich will keine Maske tragen“
Nach dem langem Flug habe ich mich ausgeschlafen und es kam der nächste Tag. Am nächsten Tag merkte ich, dass ich immer noch in einer gewissen Übergangsphase war. Ich war noch nicht angekommen. Ich fühlte mich anders als alle andere Frauen in Kirgisistan. Kirgisen ( meine weiblichen Verwandten) in Kirgisistan haben eine selbstverständliche Haltung, dass ich als Deutsche cool bin, aber ich soll es nicht zeigen. Ich soll am besten so wie sie denken und handeln.
Was heißt denn eine Bio-Kirgisin zu sein? Das bedeutet, ich darf mich nicht von anderen emotional distanzieren. Ich soll offen sein, über alles erzählen und emotional sehr verfügbar und hilfsbereit sein. Aber nach 15 Jahren in Deutschland bin ich schon ein anderer Mensch. Ich benötige unbedingt freien Raum. Diesmal habe ich zwei Tage gebraucht, um mich körperlich vom langen Flug zu entspannen und zwei Wochen, um seelisch im Land anzukommen.
In den ersten Tagen war ich wie in einem Traumland, in dem es kein konkretes Land gibt, ein Land, das chaotisch ist und das keinen Boden hat. Trotz dieses Zustands bin ich nach zweit Tagen in die Stadt gefahren. Bischkek war fremd. Die Luft, Gebäude, Gerüche, Menschen, ALLES war einfach fremd. Ich war fremd und alles war für mich fremd. Ich wollte innerlich einen Ort finden, wo ich mich wieder entspannt und wohl fühlen konnte. Aber es funktionierte nicht.
„Ich war fremd und alles war für mich fremd“
Ich konnte nicht wieder in Hamburg sein und ich konnte nicht in ein anderes Land fliehen. Kommunikation mit meinen Landsleuten kam mir auch komisch vor. Ich kam mir zu verspannt, distanziert vor und als ob sie mich so nicht mochten. Zum Glück hatte ich enge Freundinnen aus meiner Kindheit, die mich so wie ich war selbstverständlich angenommen haben. Nach zwei Wochen fühlte ich mich viel besser und zufriedener als am ersten Tag. Ich wusste, dass ich endlich in meiner Heimat angekommen war.
Dann fühlte sich mein Leben in der Heimat wie ein Fluss an. Es war ein Prozess und nicht mehr Übergang. Ich konnte mich immer wieder mit meinen Freundinnen, Verwandten, Natur und Gegenwart in der Stadt verbinden.
Übergänge zwischen Sprachen
Es gib einen bekannten Spruch, wie viele Sprache du sprichst, so viele Menschen hast du in dir. Ich finde es ist sehr gut gesagt und es ist für mich nachvollziehbar. Jedoch sind Übergange zwischen Sprachen, die ich spreche, ein spannendes Phänomen an sich.
Sprachen in mir repräsentieren Menschen, die aus verschiedenen Kulturen kommen. Je unterschiedlicher diese Kulturen sind, desto mehr Reibung zwischen denen gibt es. Psychische Schmerzen, während ich von einer Sprache oder Kultur in die andere gewechselt habe, waren früher so stark, dass ich am besten keinen Wechsel gewünscht habe.
„Ein spannendes Phänomen an sich“
Da ich in russischer und in kirgisischer Sprache aufgewachsen war, sind diese Sprachen in Frieden miteinander. Sie fließen leicht ineinander und trennen sich auch leicht voneinander, oder ich spreche manchmal gemischt. Später habe ich Englisch gelernt. Englisch ist meine angenehme Gastsprache oder sogar eine Luxussprache, die ich manchmal benutze. Die macht mir keine Probleme.
Die deutsche Sprache habe ich gelernt, als ich 21 Jahre alt war. Später kam ich nach Deutschland und diese Sprache nahm viel Raum in meiner innen Welt ein. Ich habe sie sehr intensiv gelernt und immer mehr vertieft, damit ich sie wie meine Muttersprache beherrschen kann. Mit der Zeit merkte ich jedoch, dass mein neues Ich, das durch die deutsche Sprache entstanden war, über meinem kirgisischen Ich stand.
Ich dachte, ich muss etwas tun, damit sie wieder ins Gleichgewicht kommen. Dafür habe ich konkrete Übungen gemacht. Als ich, in Deutschland, mit einer meiner Tanten telefoniert habe, habe ich ihr auf Kirgisisch kurze Momente aus meinem Alltag in Deutschland erzählt. Diese schienen mir viel ärmer als ihre Erzählungen aus ihrem Alltag zu sein. Sie sprach von einem reichen sozialen Leben, das sie in Kirgisistan geführt hatte. Als ich über meinen Alltag erzählt habe, zum Beispiel, was bei meiner Arbeit passiert war und was ich nach der Arbeit gemacht habe, empfand ich starke Schamgefühle.
„Englisch ist meine angenehme Gastsprache“
Es war mir peinlich, dass ich so ein bescheidenes Leben geführt habe. Trotzdem erzählte ich ihr regelmäßig von meinem Alltag, bis ich irgendwann kaum Schamgefühle empfunden habe. Schamgefühle entstanden dadurch, dass in Kirgisistan Menschen sehr viel mehr Wert auf Beziehungen und Nähe legen als in Deutschland. Da ich in einem neuen Land und in einer neuen Gesellschaft gelebt habe, konnte ich nicht mehr wie in Kirgisistan, wie eine Kirgisin leben. Das war die Normalität. So denke ich jetzt, aber damals habe ich unter dieser Normalität gelitten.
Andersrum habe ich über mein altes Leben in Kirgisistan, über meine Kultur, meinen deutschen Kolleg*innen und Klient*innen bei der Arbeit erzählt. Ich habe mit einer Kollegin eine Frauengruppe geführt. Für den Inhalt unserer Gruppe mochte ich gerne biografische Arbeit mit Klienten durchzuführen. Klientinnen haben über ihre Kindheit erzählt und ich habe dann auch einige Erlebnisse aus meiner Kindheit und über Orte in meiner Heimat erzählt.
Dabei empfand ich auch Schamgefühle, als ob ich eine verbotene Kiste, die mit Erinnerungen aus der Vergangenheit gefüllt war, geöffnet hätte, obwohl das harmlose Ereignisse aus meiner Kindheit waren. Jedoch empfand ich in mir starke Widerstände. Mit der Zeit merkte ich, dass solche Übungen mich bei meinem inneren Identitätskonflikt weitergebracht haben. Ich empfand immer weniger Schamgefühle für mich und für mein Leben zwischen zwei Kulturen.
“ Damals habe ich unter dieser Normalität gelitten“
In letzter Zeit frage ich mich oft, warum eigentlich habe ich viele Jahre in Deutschland mich für meinen deutschen Bekanntenkreis bequem gemacht. Warum musste ich für sie leicht angepasst sein und quasi meine andere, kirgisische Seite verbergen? Warum konnten sie sich nicht bemühen, mich als Kirgisin zu verstehen? Warum habe ich, als ich nach Kirgisistan geflogen war, meine deutschen Seiten verborgen und mich eher brav verhalten? Hat es mir Spaß gemacht, in Spaltung zu leben? Wozu war das gut? Warum konnte ich mich selbst nicht für das harte Leben in Deutschland anerkennen und das auch von meinen Kirgisen erwarten?
Jetzt weiß ich die Antwort: Menschen, egal ob sie Europäer oder Asiaten sind, bestehen aus Mainstream. Dieser Mainstream war, bewusst oder unbewusst, blind für solche freien Vögel wie mich.
Jetzt ist es so, dass ich in mir eine innere Instanz habe, die für Wechsel zwischen Sprachen und Kulturen zuständig ist. Diese Instanz oder Energie sehe ich als Etwas, das darauf achtet, dass ich während Übergangsphasen möglichst wenig Reibungen und Schmerzen empfinden und gut für mich sorgen kann. Deshalb sind Deutsche und kirgisische Kulturen in mir meistens im Gleichgewicht. Keine ist besser oder schlechte als die andere. Jede hat ihre Stärken und Schwächen und das wichtigste ist, dass ich eine nice Person werde.
Übergänge in meinen Träumen
Träume, die wir in der Nacht träumen, gehören zu uns. Seitdem ich im erwachsenem Alter das Trauma des Heimatverlust erlebt habe, habe ich viele Jahren ähnliche Szenarien geträumt.
Ich habe immer auf sie geachtet und versucht, sie zu verstehen. Diese Träume zeigten mir einen Konflikt zwischen zwei Kulturen. Dieser Konflikt wurde von meinem Unterbewusstsein als eine Stadt an sich kreiert. Ein Ort, an dem diese Schmerzen leben dürften. In dem Traum, in anfänglichen Jahren, habe ich oft geträumt, dass ich in einer Stadt war und mit meinen Siebensachen auf einer Kutsche saß und meine Kutsche sich sehr langsam nach vorne bewegte. Um mich herum war eine Überschwemmung.
Eine andere Art von Übergangskonflikt zwischen zwei Kulturen ähnelte den Träumen einer meiner Freundinnen. Als wir uns darüber unterhielten, erzählte sie mir ein ziemlich ähnliches Szenario zu meinem Traum. In dem Traum wollte ich um jeden Preis einen Flug aus Kirgisistan nach Deutschland kriegen. Ich habe es nicht geschafft, weil ich mit einer schweren, schmerzvollen Kraft beladen war und deshalb konnte ich mich nicht bewegen. Später änderte sich dieses Szenario andersrum. Ich konnte vom Flughafen Hamburg den Flug nach Kirgisistan nicht hinkriegen.
„Ein Ort, an dem Schmerzen leben dürfen“
Mit der Untersuchung meiner Schmerzen, die vom Verlust der Heimat kamen, war ich immer besser in der Lage, mit ihnen umzugehen. Sinn meines Gewinns lag daran, dass ich Stück für Stück diese Schmerzen angenommen und ausgedrückt habe.
Übergänge sind gut. Sie quälen mich zwar, aber irgendwie überstehe ich sie, so dass am Ende meine Flügel stärker als vorher geworden sind, damit ich mich zwischen Länder und Kulturen frei bewegen kann.
Übergänge sind gut. Sie holen uns aus Komfortzonen raus und lassen uns in völlig neue Situationen, in denen der Tod selbst uns kitzelt, damit wir später weniger Angst vor ihm haben und lachen können.