Ich bin 23 Jahre alt, komme aus einer deutschen Großfamilie mit 6 Kindern und studiere Jura. Meine Eltern sind gläubige Christen; die Mutter Grundschullehrerin, der Vater Postbote. Ich genieße die Möglichkeiten des deutschen Reisepasses und habe schon in den USA, Tansania und Israel gelebt. Murad ist 21 Jahre alt und kommt aus Afghanistan. Mit 11 Jahren floh er in den Iran, später in die Türkei und schließlich 2015 nach Deutschland – in eine Aufnahmestelle für Minderjährige in das Dorf meiner Eltern.
Über die Kirchengemeinde lernte er meine Mutter kennen. Sie brachte Murad Deutsch, Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Anschließend besuchte er die Schule und machte seinen Hauptschulabschluss. Murad freundete sich mit meinen Brüdern (jetzt 21 und 19) an und besuchte die Familie häufig. Weihnachten 2020 besuchte ich meine Familie. Zu dieser Zeit zog Murad in das Haus meiner Eltern, in die Wohnung meiner verstorbenen Großeltern.
Eines Abends am Esstisch berichtete Murad von seiner Familie in Afghanistan. Vorsichtig fragte ich ihn, ob er Lust hätte mir seine Geschichte zu erzählen. Ich habe mich daraufhin mehrere Stunden mit Murad unterhalten und das Gespräch in diesem Interview zusammengefasst.
Teil 1 – Die Flucht und das Leben in Afghanistan
Wir sitzen in seinem Wohnzimmer im Haus meiner Eltern. Es ist kalt. Murad sitzt in seinem Schlafsack auf der Couch, eine Tasse Schwarztee in den Händen – Ich sitze ihm gegenüber, in meine Bettdecke eingehüllt, und frage noch einmal nach, ob es okay ist, wenn ich unser Gespräch aufzeichne.
Murad sitzt nach vorne gebeugt. Er weiß nicht so richtig, wo er anfangen soll. Seine schwarz glänzenden Haare fallen ihm in die dunklen kastanienfarbenen Augen. Wie so viele zurzeit, trägt auch er die Corona-bedingte ausgewachsene Kurzhaarfrisur.
Ich: „Hast du damals mit 11 Jahren selbst entschieden, von Afghanistan wegzugehen?“
Murad: Nein, meine Mutter hat das entschieden. Mein Vater war gestorben, nachdem die Taliban ihn verprügelt hatten. Mein Onkel war ein Taliban und hat versucht, mich zu rekrutieren. Sie brauchen die Jungen, um ihnen von klein auf den Koran beizubringen, die lernen anders als Erwachsene. Ich war schon ein paar Monate bei meinem Onkel, dann haben mein Bruder und meine Mutter gesagt, dass ich weggehen müsste, damit ich kein Taliban werden würde.
Eine Stunde lang erzählt Murad von seiner Flucht. Erst wollte er nur in den Iran, musste dort aber wiederum vor Polizeigewalt und Diskriminierung fliehen. Zwei Jahre lang lebte und arbeitete er in der Türkei. Es ging ihm recht gut dort, aber das Land bot ihm keine Zukunftsperspektive, keine Bildung, keine realistische Möglichkeit auf ein langfristiges Bleiberecht.
Er arbeitete auf Baustellen und sparte Geld. Damit bezahlte er einen türkischen Schlepper. An Bord eines winzigen Bootes setzte er im Jahr 2015 von der Türkei nach Griechenland über. Anschließend machte er sich auf nach Deutschland.
Der Anfang war schwer. Die ersten drei Jahre waren geprägt von Einsamkeit und der Angst, abgeschoben zu werden. Weil er fürchtete, er könnte falsch verstanden werden und jemand könnte seine Worte gegen ihn verwenden, sprach Murad lieber gar nicht und lernte nur langsam Deutsch.
Erst als er nach dem entscheidenden Interview beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) seine Aufenthaltserlaubnis bekam, konnte er anfangen, wirklich anzukommen. – Erstmals öffnete er sich anderen gegenüber.
Sein Deutsch reicht mittlerweile für eine tiefergehende Unterhaltung. Nur manchmal suchen wir gemeinsam nach Worten, wie „Schlepper“ oder „Kofferraum“. Hin und wieder fügt er hinzu, ich sei die erste Person, der er dieses oder jenes erzählt.
Ich habe ihn lange als schüchtern und verschlossen wahrgenommen, aber in unserem Gespräch ist Murad offen und direkt. Aufmerksam und wild gestikulierend gibt er mir einen Einblick in sein Leben.
Ein anderes Leben in Deutschland
Mich interessiert, wie sich meine Lebensrealität in Deutschland von der in Afghanistan unterscheidet – und was Murad auf der Flucht durch all diese Länder über das Leben selbst gelernt hat.
Ich: Ich weiß wenig über Afghanistan. Du kennst ja Deutschland und besonders auch meine Familie sehr gut, und deine Familie in Afghanistan kennst du ja auch. Was ist in Afghanistan ganz anders als hier?
Murad: Wo soll ich da anfangen… Was mich etwas verwirrt hat, war, dass in eurer Familie im Alltag so viele Schimpfwörter genutzt werden und gestritten wird. In Afghanistan ist es unmöglich, mit Älteren zu sprechen. Auch wenn Geschwister nur so ein, zwei Jahre älter sind… man redet nicht miteinander oder macht Spaß zusammen. Es gibt so eine starre Hierarchie.
Ich erinnere mich nicht, mit meinem Vater jemals mehr als zwei Wörter gesprochen zu haben. Ich hatte immer Angst vor ihm und wurde viel geschlagen. Hier ist das ganz anders. Hier könnt ihr gut diskutieren und für euch selbst einstehen.
Ich: Denkst du manchmal, dass wir hier zu wenig Respekt vor Älteren haben?
Murad: Nein. Ich finde es echt cool, dass man in Deutschland etwas sagen kann, seine Wünsche äußern kann, etwas machen kann. Jeder lebt für sich und vertritt sich selbst. Diese Freiheit, sich ausdrücken zu können, ist wertvoll. Natürlich ist Respekt gut. Aber so stark, wie diese Hierarchie in Afghanistan gelebt wird, ist es schlecht. Es lähmt, so zu leben.
Murad erzählt vom Ziegen hüten, von der Trockenheit auf den Feldern und stillen Familienessen mit Vater, zwei Müttern und 15 Kindern.
Ich: Warst du denn gar nicht in der Schule?
Murad: Die Eltern haben Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken – wegen der Taliban. Meine großen Brüder waren in der Schule und dafür wurde mein Vater von den Taliban schlimm geschlagen. Ich wollte immer in die Schule gehen, aber mein Vater hat es verboten, weil er Angst hatte.
Er war bewusstlos geschlagen worden und seine beiden Frauen, meine Mütter, haben ihn nach Hause getragen. Er war voller Blut. Nachdem mein Vater gestorben war, hatte ein Imam vorgeschlagen, dass ich und mein kleiner Bruder in die Schule gehen könnten. Dann habe ich mich selbst angemeldet und war so zwei Jahre lang in der Schule. Dann gab es wieder zu viel Krieg und die Schule musste schließen.
„Ich habe den Krieg nicht angefangen und ich kann ihn auch nicht beenden.“
Murad erzählt, dass die Taliban allgemeinbildende Schulen verbieten und eigene Schulen aufbauen, in denen nur Koran unterrichtet wird und die Ideologie der Taliban den Kindern früh eingepflanzt wird.
Ich: Wünschen sich manche Afghanen, dass die Taliban einfach gewinnen und regieren würden, damit der Krieg aufhört?
Murad: Die meisten Menschen wollen die Taliban dort nicht haben, weil durch sie sehr strenge Regeln durchgesetzt werden. Nur der Koran darf gelernt werden und alle müssen streng muslimisch sein. Von meiner Familie mag niemand die Taliban, aber sie haben Angst, etwas gegen sie zu sagen.
Würden sie etwas gegen die Taliban sagen, wäre die ganze Familie innerhalb kürzester Zeit tot. Ich kenne einen aus meiner Stadt, der ist zur Regierung gegangen. Wenige Monate danach – war seine ganze Familie tot.
Ich: Kommt es auch vor, dass die Regierung tötet, weil jemand gesagt hat, er könne die Regierung nicht leiden und wäre lieber bei den Taliban?
Murad: Das dürfen die nicht. Also offiziell machen sie das nicht. Aber sie bringen viele Menschen um und rechtfertigen sich, indem sie sagen, dass sie dachten, das wären Taliban gewesen. Manchmal sind das Menschen ohne Waffen. Gerade bringt die Regierung mehr Menschen um als die Taliban.
Ich: Manchmal streite ich mit Menschen, die sagen, dass es ja die Schuld der Afghanen sei, dass es ihrem Land so schlecht geht. Manche sagen, dass du kein Recht hättest, nach Deutschland zu kommen, sondern lieber in deinem Land für Frieden sorgen solltest. Was würdest du solchen Menschen sagen?
Murad: Also in meiner Stadt, zum Beispiel in meiner Familie, will niemand Krieg. Keiner von ihnen hat je gesagt: „Das wünsche ich mir!“ Alle haben immer gesagt, dass der Krieg schlimm ist. Natürlich sind die Leute, die Krieg führen in Afghanistan, auch Afghanen, aber das sind halt bekloppte Menschen… Ich habe den Krieg nicht angefangen und ich kann ihn auch nicht beenden.
Ich muss ja irgendwo leben. Wenn ich sage: „Taliban, ihr seid scheiße; geht weg von uns!“, dann bringen sie mich um. Davon geht der Krieg auch nicht vorbei. Und wenn ich eine Waffe in die Hand nehme und mich wehre, dann mache ich auch Krieg. Es ist schwierig.
Wenn ich mich mit der Waffe gegen die Taliban stelle, dann bin ich Polizei. Wenn ich mit den Taliban kämpfe, bin ich Taliban. Und wenn ich sage, ich finde beide blöd und kämpfe gegen beide, dann bin ich weg. Keine Chance.
Ich: Warum gehen Menschen zu den Taliban?
Murad: Die Taliban reden von Frieden und von einer besseren Welt. Wenn du ihnen zuhörst- denkst du, die Welt wäre nur für dich geschaffen worden. Ich selbst war ja nicht lange bei den Taliban, 2-3 Monate bei meinem Onkel. Die erzählen schöne Sachen. Und ich war ja auch klein. Ich hatte immer Angst vor meinen Eltern und vor anderen Menschen. Und dann denkst du dir: was die erzählen, klingt so schön. Ich will Teil dieses Lebens sein, dieser Welt, die sie versprechen.
Sie haben Spaß und Gemeinschaft und keine Angst, weil sie sagen, dass sie in das Paradies kommen, wenn sie sterben, da sie ja für die richtige Sache kämpfen. Wenn du in diesem Leben stirbst hast du ein ewiges Leben. Du bekommst viele Frauen. Was will man mit 71 Frauen?
„Meine Schwester hat auch ein Herz, das lieben will.“
Murad erzählt von einem Freund, der auch aus Afghanistan fliehen musste. Er hatte geheiratet und dabei war es üblich, dass der Mann Geld an die Eltern der Frau zahlte. Viel Geld. Murad schätzt den üblichen Betrag auf 10.000€. Sein Freund hatte versprochen, das Geld zu zahlen.
Als er nach einiger Zeit dazu immer noch nicht imstande war, wandte sich die Familie seiner Frau an die Taliban. Sie sollten den Freund zum Zahlen zwingen. Er hatte das Geld nicht und musste fliehen und seine Frau und ihr gemeinsames Kind zurücklassen.
Murad: In Afghanistan werden Frauen sehr früh verheiratet. In der Stadt meiner Familie sind sie häufig erst 13 oder 14 Jahre alt. Meine Mutter war erst 12, als sie meinen Vater geheiratet hat.
„Kinderehen sind illegal, aber in Afghanistan weit verbreitet: Ein Drittel der afghanischen Mädchen heiratet vor dem 18. Geburtstag“, schreibt UNICEF Afghanistan. In einem Bericht aus dem Jahr 2019 wird die Geschichte von Badro erzählt, einem afghanischen Mädchen, das bereits mit fünf Jahren verlobt wurde – mit einem 30 Jahre älteren Mann. Die Eltern sahen sich hierzu gezwungen, da Krieg und Trockenheit sie in Hunger und Schulden trieben und die Familie so ihr Überleben sichern wollte.
Murad: Ich kenne viele Töchter, die so verkauft wurden. Weil die Familie Geld braucht. Es gibt Männer, die sind Mitte 30 und haben schon eine Frau und dann heiraten sie nochmal mit 13-jährigen Kindern. Das ist so ekelhaft! Und unfair…
Ich: Hast du schon in Afghanistan so gedacht?
Murad: Als Kind habe ich mir über so etwas gar keine Gedanken gemacht. Erst in der Türkei habe ich gemerkt, dass es falsch ist, Mädchen so jung zu verheiraten – besonders gegen Geld. Ich habe dort einen Film gesehen, in dem ein witziger Schauspieler gesagt hat, dass eine Frau, ein Mensch, ja nicht wie ein Tier verkauft werden kann. Da habe ich viel drüber nachgedacht und festgestellt, dass ich das auch so sehe.
Murad erzählt von seiner 14-jährigen Schwester. Sein großer Bruder will, dass sie verheiratet wird, so wie es Tradition ist. Murad ist dagegen und seine Mutter, die seit dem Tod des Vaters die Entscheidung innehat, auch.
Murad: Die Regeln sind mir egal. Meine Schwester hat auch ein Herz, das lieben will. Hier geht es schließlich nicht um ein Jahr oder so, sondern um ihr ganzes Leben!
Regeln und Bräuche in der heutigen Zeit
Unser Schwarzteekonsum macht eine Klopause nötig. Ich beeile mich, um nicht zu vergessen, wo wir stehen geblieben sind. Hunger habe ich nicht, dazu ist es viel zu spannend. Murad denkt kurz nach, während ich mich wieder in die Decke einrolle.
Murad: Vorgestern habe ich mit ein paar Freunden über Skype telefoniert. Alte Freunde aus Afghanistan, die mittlerweile alle im Iran leben. Ich habe sie gefragt, was sie tun werden, wenn sie Kinder haben. „Wie werdet ihr euch verhalten?“, fragte ich. „Werdet ihr sie verkaufen?“ Ich habe erzählt, was ich in der Türkei gelernt habe und wie es in Deutschland ist und dass ich das gut finde. Sie waren nicht überzeugt.
„Die Regeln und unsere Tradition sagen, dass es so richtig ist! So haben unsere Väter es getan und so werden wir es auch tun“, haben sie gesagt. Ich habe geantwortet, dass es aber doch echt verrückt ist und dass wir nicht immer alles gleich machen müssen wie unsere Eltern.
Herausfordernd habe ich sie gefragt, ob sie denn nur Kinder haben wollen, um Geld zu verdienen. „Nein“, haben sie geantwortet. „Aber die Regeln sind eben die Regeln.“ „Aber Regeln kann man doch immer verändern“, habe ich gesagt. Ein Freund hat vorgeschlagen, dass wir ja unsere Kinder einander heiraten lassen können und dann kein Geld dafür bezahlen. Ich habe den Kopf geschüttelt und erklärt, warum ich das genauso dumm finde. „Also wenn ich mal eine Tochter habe, kann sie selbst entscheiden und heiraten, wen auch immer sie will“, habe ich gesagt.
Meine Freunde fanden das verrückt. Die Regeln und Bräuche sind so tief drinnen, obwohl das auch junge Menschen sind, meine Freunde. Sie sagen, dass sie sich so verhalten müssen, weil sie Muslime sind. Aber das ist doch Quatsch. Im Koran steht nicht, dass man seine Kinder verkaufen soll. Am Ende unseres Gespräches haben ein paar von ihnen gesagt, dass sie es so machen werden wie ich und ein paar haben gesagt, dass sie sich an die Tradition halten wollen. Das fand ich richtig cool, dass ich sie ein bisschen überzeugen konnte. Das hat mich glücklich gemacht.
In diesem Moment empfinde ich unglaublichen Respekt für diesen jungen Menschen und kann kaum fassen, wie er bei all der Angst, dem Stress und den Schwierigkeiten die Kraft aufbringt, Normen und Prägungen immer weiter zu hinterfragen und sich seine eigene Meinung zu bilden.
Den zweiten Teil von Murads Geschichte haben wir hier veröffentlicht.