Sahel, ihr Künstlername, bedeutet Strand. Es ist ein Wort in Dari, eine der Sprachen, die in Afghanistan gesprochen werden. Der Name spiegelt wider, in welche Gefühlsebene sie sich beim Schreiben ihrer Gedichte und Kurzgeschichten begibt. Er steht für einen Rückzugsort, an dem sie sich selbst, den Gedanken über die Ereignisse ihres bewegten Lebens und über die gesellschaftliche Situation freien Lauf lassen kann. Manchmal enthalten ihre Gedichte autobiographische Züge. Vielmehr handelt es sich aber um eine Sammlung von Gedanken, die sie den afghanischen Frauen widmet.
Mehrangez Sahel erlebt als Mädchen den Krieg in Afghanistan. Sie flieht als junge Mutter über verschiedene Stationen nach Europa, beginnt unter schwierigen Bedingungen ein neues Leben in Deutschland und schafft es, eine Dichterin zu werden, die in der afghanischen Öffentlichkeit für ihre Werke Anerkennung erfährt. Heute ist sie 56 Jahre alt. Seit 30 Jahren lebt sie in Hamburg und hat drei erwachsene Töchter, die alle studiert haben.
Von Melancholie begleitet
Ich treffe Sahel bei ihr zuhause, wo sie mir schwarzen Tee und Gebäck anbietet. Ihre drei Töchter sind ebenfalls beim Gespräch anwesend, lauschen ihrer Mutter während der Erzählungen aus ihrem Leben. Teilweise erfahren sie Neues, woran sich die Töchter nicht erinnern können, hin und wieder ergänzen sie ihre eigenen Perspektiven. Auf dem Esstisch im Wohnzimmer, an dem wir sitzen, liegt der Gedichtband von Sahel.
Sie liest ein Gedicht über ein Mädchen vor, das glaubt, „zum Heiraten geboren“ worden zu sein. Das Mädchen möchte keine Töchter bekommen, damit diese nicht das erfahren müssen, was ihr eigenes Schicksal zu bestimmen scheint. Das Gedicht fragt nach der Entscheidung über das eigene Leben, wodurch Sahel zeigt, wie ihr die Verbindung des alltäglichen Lebens mit der gesellschaftskritischen Perspektive gelingt. Oftmals werden ihre Gedichte und Kurzgeschichten von Melancholie begleitet. Die Stimmung komme von ganz allein aus ihr heraus.
Selbstverortung im Chaos eines unruhigen Landes
Sahel schreibt nicht nur aus der Perspektive junger Frauen, sondern auch aus der Sicht von Frauen anderen Alters, die für bestimmte soziale Rollen stehen können. Bereits in jungen Jahren, als sie noch in Afghanistan lebte, schrieb sie über Mütter und aus der Perspektive von Müttern. Fragen des Aufbruchs, der Veränderung und der emotionalen Selbstverortung im Chaos eines unruhigen Landes sind hier verknüpft mit dem Wunsch nach einem sicheren Heranwachsen junger Frauen, die ihre Erfahrungen nicht wie andere in sicheren Umgebungen sammeln konnten.
Das Dichten hat sie sich selbst angeeignet. Indem sie viel gelesen hat, wurde ihr Interesse am Schreiben geweckt – ein Interesse, das von ihrem Vater und zwei Onkeln unterstützt wurde, die in ihrer Freizeit ebenfalls dichteten. Sie wächst in Mazar e Sharif auf, einer Stadt im nördlichen Teil Afghanistans. Dort verbringt sie mit ihren vier Brüdern eine unbeschwerte Kindheit. Ihr Vater ist Finanzdirektor für Import und Export an der Grenze zu Usbekistan und ihre Mutter arbeitet als Sekretärin im Gas- und Erdölministerium. Beide fördern die Bildung ihrer Kinder und geben ihnen ein geborgenes Zuhause.
Freunde werden zu Fremden
Alles ändert sich schlagartig, als die zehnjährige Sahel von ihrem Lehrer in der Schule erfährt, dass in der Hauptstadt Kabul ein Bürgerkrieg ausgebrochen sei. Nach etwa zehn Tagen erreicht der Krieg auch ihre Tür, hinter der sich die Familie in einer Ecke zusammengekauert versteckt, um nicht von Schüssen durch die Fenster getroffen zu werden. Das Feuergefecht ertönt eine ganze Weile laut in der gesamten Nachbarschaft. Freunde werden zu Fremden.
Als nachts die Bomben fallen und ohrenbetäubender Lärm durch die Stadt dringt, umklammert Sahel ihren Kopf und hält sich die Ohren zu. „Ich wusste nicht mehr, ob ich lebe oder nicht“, beschreibt sie die Erlebnisse, an die sie sich nicht erinnern möchte. Der Schreck sitzt so tief, dass die Angst noch heute hochkommt, wenn in Deutschland an Silvester die Knaller explodieren.
Nach den Jahren des Krieges halten es Sahel und ihr Ehemann in Afghanistan nicht mehr aus. Im Frühjahr 1992 entscheidet sich die Familie, das Land zu verlassen, um der zweijährigen Tochter ein gewaltfreies Leben zu ermöglichen. Hochschwanger flieht Sahel mit ihrer Familie nach Moskau, wo die zweite Tochter zur Welt kommt. Nach einem viermonatigen Aufenthalt gelangen sie über die „grüne Grenze“, welche über die Ukraine und Tschechien führt, nach Berlin.
Über die grüne Grenze nach Berlin
Der Fluchtweg nach Europa wurde so genannt, weil er durch einen Wald führte. „Es war schrecklich“, erzählt Sahel. „Ich musste mein kleines Kind nachts über umgefallene Bäume tragen – dabei hatte ich kaum noch Kraft.“ Als sie Berlin erreichen, nimmt sie ein Taxi nach Hamburg, weil nachts keine Züge mehr fahren. Ihr Ziel ist Hamburg, denn dort lebt seit einigen Jahren Sahels ältester Bruder mit seiner deutschen Verlobten. Bald stellen Sahel und ihr Ehemann ihre Asylanträge.
Die anschließende Zeit ist von Anstrengung geprägt. Sie und ihre Familie müssen drei Monate auf den Wohnschiffen für Asylsuchende leben, auf denen zeitweise 2000 Menschen untergebracht werden. Danach werden sie in eine Absteige am Steindamm verlegt, nahe der Reeperbahn, wo ein für Kinder geeignetes Wohnen praktisch unmöglich ist. „Es lebten nur ein paar Familien in dem Haus und viele junge Menschen“, beschreibt Sahel. „Wir hatten ein Zimmer, in dem Kakerlaken und Mäuse herumliefen. Ich konnte dort nicht einmal die Milch für meine Kinder aufwärmen.“
Nach drei Jahren – die erste eigene Wohnung in Hamburg
Nach ein paar Monaten ziehen Sahel und ihre Familie in eine Unterkunft für Asylbewerber*innen. Drei Jahre nach der Ankunft in Deutschland erhalten sie ihre erste eigene Wohnung in Hamburg. Der Neustart in dem unbekannten Land war nicht einfach, schon gar nicht mit zwei Kleinkindern. Ihren Traum, nach dem Abschluss der zwölften Klasse in Afghanistan Sprache und Literatur zu studieren, kann Sahel nicht verwirklichen. Sie wollte Journalistin werden. „Und im Nebenjob Bollywood-Sängerin“, sagt sie lachend.
Sie hat zwar keinen Abschluss in Literatur und trägt keinen Titel. Aber trotzdem hat Sahel es geschafft, dem Wunsch zu schreiben auf einem anderen Weg etwas näher zu kommen. Auch ihre Gedichte tragen keine Titel, weil auf diese Weise die Leser*innen dazu angeregt werden sollen, sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen.
Erste Veröffentlichung: Der Mond auf meiner Handfläche
Eine Sammlung von Gedichten und Kurzgeschichten, die sie über die Jahre geschrieben hat, bringt sie im Jahr 2017 auf Dari heraus – in einem Buch, dessen Titel übersetzt ‚Der Mond auf meiner Handfläche‘ lautet.
Ihre Gedichte werden zum Teil im afghanischen Radio vorgetragen und Sahel unterhält sich als Fernsehgast mit den Moderatoren und Zuschauenden über ihre Werke. „Als Kind habe ich in der Dunkelheit immer versucht, den Mond mit meiner Hand zu halten. Ich hatte den Wunsch, den Mond greifen zu können“, sagt sie. Die vom Mond ausgehende Faszination fließt in ihre Gedichte ein, mit denen sie indirekt die Sichtbarkeit und das Unscheinbare der Dinge thematisiert.
In der Einleitung des Buches schreibt Sahel an die Leser*innen, dass sie auf den Blick der Leser*innen zählt, auf die Kraft des Erkennens ihres Augenlichtes. Sie hofft, dass sie die Schönheit des Geschriebenen sehen und dabei berücksichtigen, dass sie noch nicht alles gesagt hat. In ihrem Herzen sei noch viel verborgen – so wie der Mond, der nicht immer sichtbar ist, dessen Erscheinung jedoch spürbar bleibt.
Der Stift ist stärker als jedes Schwert
Die Poetik stellt in der afghanischen Kultur eine wichtige Form des Ausdrucks dar. Obwohl Afghanistan eine der höchsten Analphabetenquoten weltweit hat, beherrschen die meisten Afghaninnen und Afghanen einige Gedichte. Über lyrische Texte gelingt es vielen, die Geschehnisse des Krieges und die anhaltenden Unruhen im Land, ihre Wünsche und ihre Bedürfnisse zu verarbeiten. Sahel betont, dass die Poetik eine Rolle der Verteidigung einnimmt und damit zu Stärke verhilft. „Wir wehren uns mit dem Schreiben“, sagt sie, „im Gegensatz zu den anderen, die mit Waffen kämpfen“.
Der Stift sei für sie stärker als jedes Schwert. Sollte man sie dafür bestrafen, dass sie ihren Gedanken durch Gedichte Ausdruck verleiht, würde es sie nur noch mehr motivieren, weiterzumachen. Irgendwie weitermachen und nicht aufgeben, so lautet auch das Motto vieler anderer afghanischer Schriftsteller*innen, die trotz der Taliban-Herrschaft zu ihrer Kunst zurückgefunden haben.
Aufgrund der lebensbedrohlichen Umstände flohen viele Intellektuelle mit der Machtübernahme im Jahr 2021 ins Ausland, wenn es ihnen gelang. Ebenso wie für die Journalist*innen ist auch für die Schriftsteller*innen in der Öffentlichkeit keine Sicherheit geboten, wenn sie Kritik an gesellschaftlichen und politischen Zuständen äußern.
Im Austausch mit der Community der afghanischen Literat*innen
Über das Internet hält Sahel Kontakt zu anderen Schriftsteller*innen und bleibt dadurch über die Ereignisse und Lebensumstände ihrer Kolleginnen und Kollegen informiert. Auf den regelmäßigen Konferenzen, die in verschiedenen Städten Europas stattfinden, diskutiert die Community der afghanischen Literat*innen über die aktuelle Lage in Afghanistan und bespricht die neuesten Veröffentlichungen.
Auf den Veranstaltungen wird über Themen wie Sprache, Tradition, Politik, Gesellschaft oder die Rolle der Frau diskutiert. Es sind Themen, die auch Sahel in ihren Gedichten aufgreift, oft mit einem Alltagsbezug und aus der Perspektive von Frauen. Die prägenden Erfahrungen durch den Krieg in Afghanistan zeigen sich zwischen den Textpassagen, die Gedichte beschäftigen sich mit Sehnsüchten, der Liebe, dem Frühling und Heimat.
Ein Gedicht ist ein Gefühl
Es ist das Gefühl, das aus ihr heraus schreibt, welches sie teilen und weitergeben möchte. Ein Gedicht ist ein Gefühl, oder viele Gefühle in all ihren Facetten. Sahel findet es wichtig, Themen aus- und anzusprechen, weil sie eine Wahrheit und einen Einblick in eine Wirklichkeit zeigen. Gerade deshalb sei es notwendig, schwierige Bedingungen, mit denen Frauen zu kämpfen haben, aufzudecken. Sie schreibt für keine bestimmte Zielgruppe, denn jede Person soll sich von den Gedanken der Mitmenschen angesprochen fühlen. „Manchmal schreibe ich nur für mich Kurzgeschichten oder für meine Töchter, indem ich zum Beispiel ihre Namen in einem Gedicht verbinde“, sagt sie.
Dass ein paar ihrer Gedichte nun bei kohero für das deutschsprachige Publikum zugänglich gemacht werden, freut Sahel. Deutschland sei ihre zweite Heimat geworden. Mit ihren Gedichten möchte Sahel dafür sensibilisieren, den Menschen aus Afghanistan zuzuhören. „Durch das Schreiben bringe ich Deutschland und mich ein bisschen näher zusammen“, fügt sie hinzu.
Gedichte aus Dari von Mehrangez Sahel Nyeazi übersetzt von Gazal Sami
Die Liebe selbst noch nicht erfahren,
und noch an keiner Rose ihren Duft gerochen, warf man mir einen weißen Schleier über den Kopf und setzte mich in den Schoß
eines älteren Mannes,
der nur an Nachwuchs dachte.
Ohne jemals selbst aus den Augen einer Frau die Welt gesehen zu haben, bat ich zu Gott,
mir unter meinen Kindern kein Mädchen zu schenken.
Ich werde nie den Wunsch zum Fliegen verspüren, sollten deine Augen mein Käfig sein.
Mein gesamtes Leben lang rauchte ich solche Zigaretten, deren Tabak russisch,
deren Filter amerikanisch,
und deren Streichholz afghanisch waren.
Man klagte mich des Mordes an, durch meine blutgetränkte Hand.
Sie wussten aber nicht,
dass ich mit jener Hand eine Schusspatrone aus dem Fuß eines Soldaten entfernte.