Meine Mutter ruft mich an aus Süddamaskus. Sie sagt, dass sie nach 46 Jahren endlich einen Schlüssel für das Haus bekommt, in dem sie all die Jahre gelebt hat.
Meine Mutter und ich lebten ohne Schlüssel. Meine Mutter besaß ihr ganzes Leben lang keinen Schlüssel zum Körper, doch sie vererbte mir eine ganze Reihe an Wünschen, die sie nicht aufbrauchte. Alles, was meine Mutter besaß, waren Schlüssel zu Ehrfurcht, Heimweh, Verlust und Stille. Wie konnte ich mein ganzes Leben in einem Haus ohne Schlüssel leben? Das frage ich mich jedes Mal, wenn ich etwas später nach Hause zurückkehre. Ist das der Vorteil, wenn man keinen besitzt? Dass man nach Hause kommen kann, wann und wie man möchte?
Ich denke, dass derjenige, der den Schlüssel erfand, irgendein Geheimnis bewahren wollte. Und wenn man in einer Großfamilie wie meiner lebt, wie soll man da Geheimnisse bewahren?!
Es heißt, dass das erste Schloss, das mit einem Schlüssel funktioniert, um das Jahr 2000 vor Christus im Alten Ägypten erfunden wurde. Es war wie ein großer hölzerner Riegel, der von außen am Tor befestigt wurde. Draußen bedeutet Unsicherheit, draußen ist der Verlust deiner persönlichen Sicherheit. Also sorge ich mich noch mehr um den Schlüssel. Er hebt die Stifte aus den Löchern im Riegel, sodass sich der Riegel wieder frei bewegen kann. Und dadurch öffnet sich das Tor mit dem Schloss und der Wagen meines Lebens fährt offen hindurch und läuft aus, ohne dass ich einen Tropfen davon auffangen kann. Für jedes Schloss gibt es einen Schlüssel, sagt die Wissenschaft.
Immer schon habe ich mir gewünscht, einen Schlüssel zu haben. Deshalb kaufte ich mir über viele Jahre hinweg zahlreiche Schlüsselanhänger. Ich bin heute Tausende von Kilometer vom Haus meiner Mutter entfernt und sehne mich doch nur danach, den einzigen Schlüsselhänger zu sehen, den meine Mutter tragen wird. Vielleicht wird sie auch gar keinen Anhänger tragen, sondern ihren Schlüssel an die Seite ihres Kopftuchs binden, so wie es die übrigen Frauen um sie herum machen.
Ich sage also: Nun gut, liebe Sehnsucht, ich werde dir einen Schlüssel in einem kleinen Spalt der Wand lassen. Oder unter dem Kies des verwaisten Blumentopfes, damit du ihn findest, wenn du früher kommst. Ich werde für dich die Tür angelehnt lassen. Lass die Engel dich nicht sehen und komm heimlich wie die Sünde! Das habe ich einmal für die Liebe geschrieben, die mit all den Schlüsseln über mich kam, die ich allein produziert hatte.
Ich war gerade dabei, aus dem elterlichen Haus aus- und mit fast 35 Jahren ins eheliche Haus einzuziehen. Wie jede andere arabische Frau auch, wollte ich den Schlüssel zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, mit mir nehmen. Ich wollte ihn mitnehmen oder dalassen – es macht keinen Unterschied. Aber wir als Familie hatten nie einen Schlüssel zur Tür besessen (die Haustür meine ich). Wozu braucht ein Nomade ihn, wenn er die weite Welt Gottes bewohnt?! Alle Zelte sind zum Himmel offen, so sagte mein Großvater, und nach ihm sagte ich es. Ich bin die Nomadin, die in Süddamaskus geboren ist, und nie einen Schlüssel besaß. Aber ich zog in den letzten Jahren viele Schlösser hinter mir her, alle ohne Schlüssel.
Ich überquerte einen Ozean ohne Schlüssel, einen zur Rettung meine ich. Nur mit einer Schwimmweste, die mir ein Schleuser gegeben hatte. Vielleicht sagte er, das sei der Schlüssel zur Sicherheit. Ich durchquerte Osteuropa ohne Schlüssel. Was hätte ich auch mit ihm machen sollen, als ich ein Mädchen auf meinen Rücken trug und einen vierjährigen Jungen verlassen musste, in den Ländern, die vor uns vierhundert Jahre lang alle Schlösser verschlossen hatten.
Nachdem ich aus dem Haus meiner Eltern ausgezogen war, hatte ich immer in Mietshäusern gelebt. Der Vermieter ließ den Schlüssel in meine Hand fallen, voller Schweiß und Schmutz von den vielen Händen, die ihn festgehalten hatten. Zuallererst befestigte ich den alten/neuen Schlüssel an einem neuen Ring. Doch davor musste ich ihn desinfizieren. Ich scheuerte ihn akribisch. So entfernte ich die Spuren all der Hände, die ihn vor mir hielten, die müden, traurigen, armen Hände.
In dem Buch „Das Leben ist ein Roman“ des französischen Schriftstellers Guillaume Musso verschwindet die dreijährige Carrie, als sie mit ihrer Mutter Verstecken spielt. Es gibt keine Erklärung für das Verschwinden des Kindes. Die Tür der Wohnung und die Fenster sind verschlossen. Die Mutter rennt durch die weitläufige Wohnung und wünscht für sich selbst das glückliche Ende, das ein Versteckspiel normalerweise nimmt… Der Sieg über das Verschwinden.
Die Mutter eilt zur Eingangshalle. Die gepanzerte Tür ist fest verschlossen. Der Schlüssel steckt im Schloss und hängt am Schlüsselbund mit den anderen Schlüsseln. Der Weg zur Sicherheit ist der Mutter klar. Denn niemand kann eine Tür von außen öffnen, wenn der Schlüssel innen im Schloss steckt. Das Versteckspiel endet nicht zufriedenstellend mit einem Anruf der Mutter bei der Polizei.
Diese Artikel wurde auf Arabisch geschrieben und vorher auf raseef22 veröffentlicht. Er wurde von Sonja Jacksch übersetzt.