Ein Ausschnitt aus der Vogelperspektive taucht im Kopf auf, wenn ich an Asow-Stahl denke. Dieses Bild wurde mehrmals in sozialen Netzwerken und Dokus im Internet gezeigt. Solche Bilder habe ich früher aus Syrien gesehen und konnte nicht verstehen, wie man die Stadt so zerstören kann. Und jetzt sind das die Bilder von meinem Heimatland.
Eine Drohne fliegt ganz langsam über die zerstörte Stadt und auch über ein riesiges Stahlwerk. Das Werk heißt Asow-Stahl und befindet sich in Mariupol. Vor der russischen Invasion hatte man in europäischen Medien kaum gehört von Mariupol, eine kleine Stadt am Asowschen Meer in der Ukraine.
Nach dem Überfall von Russland am 24. Februar begann die Belagerung von Mariupol. Die Einheimischen konnten nicht glauben, dass die Eroberung von der Stadt überhaupt möglich ist. Sie wurden überzeugt, dass die Stadt wie ein Fort verstärkt ist und niemand schafft es, reinzumarschieren. Aber die ersten Wochen der Belagerung haben das Gegenteil gezeigt.
Während der dreimonatigen Bombardierung zogen sich die russischen Okkupationstruppen aus dem ukrainisch kontrollierten Gebiet auf das Industriegebiet des Metallurgischen Kombinats Asow-Stahl zurück. Die letzten Verteidiger haben am 20. Mai das Territorium von dem Stahlwerk verlassen.
Er sieht den Balken im eigenen Auge nicht, aber den Splitter im fremden
Seit Beginn der russischen Invasion ist das Regiment Asow mehrmals in Kritik, besonders durch westliche Medien, geraten. Hauptsächlich wegen der zuvor vorgeworfenen Beziehung mit rechtsextremistischen Gruppen. Dies ist aber immer noch umstritten. Allerdings wurden im Laufe des Krieges diese Geschichten gerne von propagandistischen Medien in Russland genutzt und das Regiment Asow wurde dort als terroristische Organisation eingestuft. Seit 2013 hatte Russland seinen absurden Mythos über Neonazis in der Ukraine geschaffen und ein weltweit verbreitetes Netzwerk dafür gebildet.
In Deutschland wird diese Aussage auch mehrmals verwendet und sehr aufrichtig damit manipuliert. Es drängt sich ein alter Spruch auf: „Er sieht den Balken im eigenen Auge nicht, aber den Splitter im fremden“. In Deutschland werden die Skandale mit Verfassungsschutz und Polizei gerne mal vertuscht und kleingemacht.
Von zahlreichen Skandalen und Gewalttaten wird schon seit Jahren in den Medien berichtet. Davon kann man in einem Gastbeitrag aus dem Jahr 2019 von Sebastian Wehrhahn und Martine Renner lesen: Seit 1956 wurden ehemalige Nazis im Bundestag als „freie Mitarbeiter“ angestellt. Das damalige Zitat aus dem Spiegel lautet: Die „Sammelwut [des Verfassungsschutzes] geht so weit, dass jeder Bundesbürger, der nur seine Grundrechte wahrnimmt, fürchten muss, vom Verfassungsschutz erfasst zu werden.“ Solche Fälle bieten eine Möglichkeit für illegalen Tätigkeit der Rechtsextremisten bis heute.
Zivilisten im Regiment
Asow besteht aus mehreren Freiwilligenbataillonen und wurde 2014 gegründet. Seitdem kämpften sie erst gegen prorussische Separatisten. Eine Hälfte vom Regiment Asow besteht aus Zivilisten, viele davon sind seit dem 24. Februar dazugekommen. Das heißt, ganz normale Menschen, die im früheren Leben an der Bar oder als Rechtsanwalt gearbeitet haben. 2014, nach der Gründung von Asow, haben sich weltoffene, progressive und pflichtbewusste Menschen dem Regiment angeschlossen. Sie verstanden früher als wir alle, dass der Krieg uns allen innewohnt, wer unser Feind ist und welche Gefahr von dem Krieg in Donbas ausgeht.
Unter ihnen war auch mein ehemaliger Kommilitone und erfolgreicher Architekt aus Kyjiw – Serhii Rotschuk. Serhii befindet sich immer noch in russischer Gefangenschaft, sein Schicksal bleibt weiterhin unbekannt. Zusammen mit anderen Kämpfern ist er am 21. Mai 2022 in die Gefangenschaft geraten.
Die Zeit während des Krieges fühlt sich anders an und vergeht sehr schnell, und sogar jetzt, knapp 10 Monate nach der Invasion, werden in den Medien außerhalb Ukraine kaum Berichte gehört über zahlreiche Opfer und Kämpfer. Obwohl mittlerweile wieder eine neue Kriegsphase anfing. Massive Beschüsse von Kyjiw und anderen Städten mit iranischen Kamikadze-Drohnen und Raketen beweisen, dass der Aggressor seine Pläne noch nicht abgeschlossen hat. Was bleibt nach dem Ende dieser Ereignisse?
In Stein gemeißelt
Im Verlauf menschlicher Geschichte rühmte die Bevölkerung von jedem Land eigene Helden. Der bekannteste und beliebteste Weg war und bleibt ein Denkmal für bestimmte Persönlichkeiten. Aber nur einzelne bleiben im Laufe der Zeit stehen und noch weniger davon bekommen von der Mehrheit die Begeisterung und erhalten den gebührenden Respekt.
Die Verherrlichung mancher Personen war oft durch politische Ziele bedingt. Wie zum Beispiel das Denkmal der roten Armee in Riga, Lettland. Im August 2022 wurde das Denkmal der sowjetischen Armee endgültig abgebaut. In der Bevölkerung von Lettland herrschten unterschiedliche Ansichten: Für ein Teil war das Denkmal ein Symbol für den Sieg der Roten Armee und gleichzeitig eine Erinnerung an die Besatzung Lettlands.
Letztendlich erinnern die Denkmäler wie Grabsteine auf einen Friedhof an die Überlebenden und ihre Familienmitglieder. Aber zum Glück können wir selbst entscheiden, auf welche Weise wir unsere Toten ehren möchten. Der Stein bleibt kalt und wird nicht die leidende Seele wärmen oder trösten. All die berühmten Bilder von sowjetischen Soldaten, versteinerte dynamische Figuren, die in der Regel das gleiche Gesicht haben, wecken nicht viel Sympathie bei uns.
„Denkmäler sind Ausdruck eines Zeitgeistes, sie vergegenwärtigen unser Erbe, konfrontieren uns mit einer fortwirkenden Vergangenheit, die – beharrlich, unbarmherzig, bisweilen auch versöhnlich – in unsere Gegenwart hineinragt“, so der Brockhaus.
Russland, ein Spiegelland
Nach knapp 10 Monaten Krieg hat sich Russland endgültig in einen Terrorstaat verwandelt. Die Bevölkerung im Westen macht schon lange die Augen zu. Vielleicht hat man sich nach dem Horror des Zweiten Weltkriegs Frieden gewünscht. Für mich ist Russland ein Spiegelland. Sie stellen Denkmäler für Omas, die die Sowjetunion vermissen, auf, bringen die Büste Lenins zurück, sie versuchen mit aller Mühe das alte Regime ins Leben zu rufen. Der Preis dafür ist Verwüstung, Gewalt und Zerstörung – überall, wo russische Soldaten mit ihrer „Friedensmission“ gewesen sind.
Die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder. Der Mensch lernt nicht daraus.
Unfassbarer Daseinswille – trotz allem
Am 2. September 2022 wurden 215 ukrainische Kämpfer freigelassen, dabei waren auch Asow-Stahl-Kämpfer. In einem Video des Ereignisses sieht man, wie eine junge, hochschwangere Frau als erste aus dem Bus ausstieg. Nur fünf Tage später brachte sie ein Baby auf die Welt.
Etwa eine Woche später fand ein magisches Treffen statt: Fünf Kommandeure aus dem Regiment Asow trafen sich mit ihren Familien in der Türkei. Präsident Selenskij meldete, dass sie bis zum Ende des Krieges in der Türkei bleiben sollen. Die anderen sind in der Ukraine und haben noch einen langen Rehabilitationsweg vor sich. Fast alle freigelassenen Kämpfer haben eine kritische Stufe von Anorexie und körperlicher Erschöpfung erreicht. Aber sie leben, und das ist ein Beweis für ihren unfassbaren Daseinswillen. Trotz unmenschlicher Bedingungen haben sie sich selbst nicht verloren.
Nur Menschen mit klaren, hellen Gedanken, Vorhaben, nur Persönlichkeiten, die ein Löwenherz haben, bleiben in unserer Erinnerung. Die Verteidiger von Mariupol brauchen keine Blöcke aus Stein und Marmor, da sie für immer in unseren Herzen und Gedanken bleiben. Eine Erinnerung an sie und unsere helle, glückliche Zukunft in der Ukraine – unser größter Dank geht an sie, die ihr Leben für unsere Freiheit und das Recht, unter freiem Himmel laufen zu können, gelassen haben.
Dieser Artikel ist im Schreibtandem entstanden.