Kaum ist das kleine Lade-Symbol im Zoom-Fenster verschwunden, erscheint Pia, 34 Jahre und Fotoredakteurin, in einem fliederfarbenen Pulli mit verschlafenem Grinsen und zerzausten Haaren. “Ich habe Urlaub und bin erst aufgestanden”, entschuldigt sie sich. Sie sitzt in ihrer Küche, ruckelt ein wenig an ihrem i-Pad, findet die richtige Position und steigt direkt ins Gespräch ein.
Abhängen mit der “großen Schwester”
Seit fünf Jahren ist Pia Patin einer syrischen Familie, die 2015 nach Deutschland geflüchtet ist. “Mir war schon länger klar, dass ich Patin werden möchte”, erzählt sie. Als sie 2016 nach ihrem Studium zum ersten Mal einen geregelten Alltag hatte, ging sie auf die Suche nach einer passenden Organisation und fand eine in ihrem Stadtteil. Pia meldete sich an und traf wenig später auf ihre heutige Hamburger Ersatzfamilie. Ihre “Family”, wie Pia sie immer wieder liebevoll im Gespräch nennt, besteht aus Mama Gulistan, Papa Ezzadin sowie den Kindern Joan (19), Roha (15), Sevin (14) und Hevin (12). Eine spezielle Aufgabe hatte Pia nicht. “Wir sind irgendwie bei zusammen chillen, Zeit miteinander verbringen und sich gern haben hängen geblieben”, lacht sie und spielt mit einer Haarsträhne. Immer wenn sie von ihrer Family spricht, fangen ihre großen Augen an zu leuchten: “Ich fühle mich bei den Kids wie die coole große Schwester.”
Hilfe für die Nachhilfe
Neben Geburtstagspartys feiern und im Park abhängen, greift Pia den Kindern auch in schulischen Dingen unter die Arme. Mit Joan sucht sie nach Minijobs, für Roha und Sevin organisiert sie über ihren Instagram-Account Nachhilfelehrer*innen. Sie selbst sei nicht für Nachhilfe gemacht, gibt sie ehrlich zu. “Mir ist sehr wichtig, dass meine Kids wissen, dass ich ihnen immer Hilfe organisieren kann und sie IMMER danach fragen können. Sie wuppen so viel. Ich habe tiefsten Respekt davor, denn sie sind 2015 nach Deutschland gekommen und lernen erst seitdem Deutsch”, erzählt sie mit Bewunderung in der Stimme. Sie ärgert sich, dass es kein staatliches Angebot für diejenigen gibt, die sich Nachhilfe nicht leisten können: “In der Beziehung versagt die Politik auf ganzer Linie. Erst wenn man kurz vorm Sitzenbleiben ist, wird man finanziell unterstützt.” Immer wieder schwankt sie zwischen Schwärmerei für die Kinder und Ärger über die Politik.
Fehlende Empathie in der Gesellschaft
Mit ihrer Patenfamilie ist sie mittlerweile sehr gut befreundet. Was macht die Patenschaft eigentlich mit ihr? “Ich setzte mich viel mehr mit der Flüchtlingspolitik in der EU und Deutschland auseinander und bin oft geschockt”, Pias Stimme nimmt einen neuen Ton an. Eine humane Flüchtlingspolitik sei ihrer Meinung nach nicht mehr gesellschaftsfähig und viele Menschen scheinen diesen Trend gar nicht zu hinterfragen oder sogar zu begrüßen. Es gehe ihr zu sehr darum, wie wir verhindern, dass Geflüchtete nach Deutschland kommen, denn Berichte über frierende Menschen mit Fluchtgeschichte seien zum Standard-Thema geworden. “Für mich ist das unverständlich. Es fehlt immer mehr an Empathie für Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen”, sagt sie traurig, ihre Augen wandern beim Sprechen durch das Zimmer, “Die Möglichkeit, dass genau diese Menschen Deutschland und Europa bereichern könnten, wird kaum bis gar nicht thematisiert.”
Sie wird lauter beim Reden, haut mit den Händen auf den Tisch: “Aber da sterben Menschen an den Grenzen. Also was soll der ganze Scheiß mit der Antihaltung? Wir können von Glück sprechen, dass wir mit unseren Kindern nicht dort an den Grenzen feststecken und frieren müssen. UND Deutschland ist wirklich groß genug für alle.”
Mit ihrem Instagram-Account versucht sie der fehlende Empathie entgegenzuwirken. Ihre Community müsse man zwar nicht mehr bekehren, aber jede*n, den*die sie mit in die Bewegung der Pro-Geflüchteten ziehen kann, seien für Pia ein Gewinn. “Meiner Meinung nach müssen wir dringend bei uns anfangen und unser Mindset wieder resetten. Wir müssen lauter werden für Geflüchtete. Sonst wird sich politisch nichts für sie ändern.”
Eine Community, die motiviert
Pia startete ihren Account Pias Kids gemeinsam mit einer Freundin, als sie auf der Arbeit unterfordert war und ihr etwas fehlte. Seit Frühjahr 2021 betreut sie den Account alleine.
“So viel Zeit bleibt mir neben der Arbeit leider nicht. Aber ich versuche immer wieder mal Projekte auf die Beine zu stellen oder eben Dinge zu reposten, die das Thema Flüchtlingspolitik beleuchten”, sagt sie, ihre Haarsträhne ist mittlerweile geflochten. Mit Pias Kids erreicht sie eine kleine sympathische Community, wovon 99 Prozent Frauen sind, wie sie selbst sagt. “Aber das ist toll! Wir Frauen müssen eh viel mehr zusammen halten, um das Patriarchat stürzen zu können!” Häufig engagieren sich dieselben Follower*innen, was schön sei, zusammenschweißt und motiviert: “Ohne diese tollen Leute da draußen würde ich längst keine Energie mehr in Pias Kids stecken und abends viel mehr puzzeln.” Über ihren Account teilt sie nicht nur ihre Erfahrungen, sondern sucht regelmäßig nach Unterstützung für ihre und anderen Kindern in Geflüchtetenunterkünften. Mal geht es um gebrauchte Musikinstrumente, mal um alte Taschenrechner. So oder so: Auf Pias Community ist immer Verlass.
Wenn Kinder inspirieren
Das war auch so, als sie während Corona das Projekt “Herzpost” ins Leben rief und ihre Community dazu ermunterte, Kindern in Unterkünften ein wenig Ablenkung zu schicken. Inspiriert wurde sie durch ihre Patenkinder, die sich im ersten Lockdown furchtbar langweilten. “Ich habe mir echt Sorgen gemacht. Mein Partner und ich haben ihnen regelmäßig Dinge zur Beschäftigung vorbeigebracht und Briefe geschrieben. Die Kids haben geantwortet und waren so beschäftigt. Da dachte ich mir: Das werden sicherlich nicht die einzigen Kids sein, die unter der Isolation so leiden”, erinnert sie sich zurück und lächelt.
Also organisierte sie über ihren Account Brieffreundschaften für Kinder in Unterkünften. Was das Schönste daran sei? Die Beziehungen, die so entstehen. “Erst fängt es auf der nicht-geflüchteten Seite mit einem “Gute Tat”-Gedanken an. Dieser löst dann ‘ne Menge Emotionen aus und die Erkenntnis, dass die Person, mit der er*sie schreibt, ‘ne echt coole Socke ist und nicht nur eine Person mit Fluchthintergrund.”
Herzpost Weihnachtsedition
Im November 2020 motivierte Pia ihre Community, für die “Herzpost Weihnachtsedition” Schuhkartons mit Kleinigkeiten für Kinder zwischen 0 – 18 Jahren zu füllen. Insgesamt gingen ca. 650 an die Gemeinschaftsunterkunft in Parchim und Lohmen und in die Erstunterkunft in Schwerin. In diesem Jahr hat Pia das Projekt wiederholt, hatte jedoch Bedenken. Sie möchte kein Mitleid für Geflüchtete erzeugen und schon gar nicht das Konsumverhalten unserer Gesellschaft befeuern. Sie wirkt reflektiert, ist sich ihren weißen Privilegien bewusst. Da sie es liebt, neue Dinge anzustoßen, kann sie das Projekt aber auch nicht nicht umsetzen. Warum ihr das Projekt am Herzen liegt? “Weil es mir auf den Sack geht, dass aktuell wieder Menschen im Stich gelassen werden und Geflüchtete in Deutschland unsichtbar sind. Man hört und sieht nichts”, ärgert sie sich und haut beim Reden die Hände auf den Tisch.
Dann fügt sie ruhiger hinzu: “Leider hat es schon ‘nen White-Savior-Touch, den ‘vermeintlich armen geflüchteten Kindern’ was zu schenken. Ich versuche dagegen anzusteuern und das Bewusstsein zu schaffen, dass wir schenken, um mehr Bewusstsein für Geflüchtete zu entwickeln und eben auch Empathie.” Ihre kritischsten Ratgeberinnen sind ihre Patentöchter. Damit sie nicht aus einer rein weißen Perspektive handelt und glaubt zu wissen, was benötigt ist, wendet sie sich immer wieder an ihre Patenkinder: “Ich mache immer nur das, was meine Familie cool findet.”
In Zukunft mehr Miteinander
Pias positive Art und ganze Wärme hat trotz Bildschirm meine Küche eingenommen. Sie plant bereits das nächste Projekt. Vor der Unterkunft, in dem ihre Family lebt, möchte sie ein Bücherregal aufstellen. Auch an dieser Stelle hat sie ihr Vorhaben kritisch hinterfragt und ihre Kids um Rat gebeten. Ihrer Ältesten hat sie sogar einen Minijob angeboten. “Die fragt jetzt schon jede Woche: Wann fangt ihr an?”, ahmt sie mit einer schrillen Stimme nach und lacht. Da in diesem Projekt mehrere Personen involviert sind, verzögert sich der Bau. Davon lässt sie sich nicht irritieren.
Ihr Tatendrang ist spürbar. Mit leuchtenden Augen verrät sie: “Das Bücherregal soll der erste kleine Startschuss sein, um mit den Menschen dort in Kontakt zu kommen und ein Netzwerk aufzubauen. Mit Sportvereinen, Praktikumsmöglichkeiten, Ausbildungsplätzen, Nachhilfe … Dieses Netzwerk soll auf alle Unterkünfte der Welt übertragen werden. Damit die Menschen an solchen Orten nicht isoliert sind und eine Chance haben, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu werden.”
Beim Bücherregal soll es nicht bleiben, auch ein Hochbeet ist vorgesehen. “Die Eltern hatten in Syrien einen großen Garten. Ich wünsche mir, dass sie und die anderen Bewohner*innen der Unterkunft ihre individuellen Bedürfnisse an diesem Ort mehr ausleben können.” Welche Wünsche sie noch hat? “Mein Wunsch ist generell, einen Beitrag zu mehr Zusammenhalt und Miteinander zwischen Menschen auf der Flucht/mit Fluchthintergrund und Menschen ohne Fluchthintergrund zu leisten”, sagt sie ernst.
Das macht Pia auf jeden Fall. Und ist ganz sicher für andere eine Inspiration. Für alle, die an einer Patenschaft interessiert sind, hat Pia noch einen guten Tipp: “Mach es einfach und mach es auf deine Art. Mit der Zeit und Energie, die du reinstecken magst und kannst. Es wird ja eine beidseitige Geschichte werden, also wird es sich schon entwickeln. Freu dich drauf, es wird eine wärmende Beziehung werden.”