„Migrant Lives in Pandemic Times“ ist ein internationales Digital Storytelling Projekt, dass aktuelle und persönliche Momentaufnahmen aus dem Leben von Menschen mit Migrationsgeschichte aufgreift, die sonst kaum in den Medien vorkommen. Ihre Erlebnisse während der Pandemie zeigen, was uns in Ausnahmesituationen und darüber hinaus als Menschen verbindet. Sophia Burton, Projektmanagerin und Mitgründerin von MIGRATION MATTERS, und Bernadette Klausberger, Creative Director und Produzentin, erzählen von den Anfängen, Zielen und Überraschungen des wissenschaftlich-künstlerischen Projekts.
Erfahrungsaustausch zwischen Migrant*innen und Wissenschafter*innen
,,Ausgangspunkt war die Frage, was diese spezielle Zeit der Pandemie mit Menschen macht, die migriert sind, und weit weg von Familie und Herkunftsort leben und arbeiten.“ Dabei sollten Menschen aus unterschiedlichen Ländern und sozialen und wirtschaftlichen Umgebungen porträtiert werden.
„Warum Menschen migrieren hat so viele Gründe. Also haben wir nach einer möglichst großen Vielfalt in punkto Persönlichkeiten und Lebensumstände gesucht. Von der simbabwischen Doktorandin in Südafrika, die versucht ihr Studium abzuschließen, über die philippinische Haushaltshilfe in Sizilien, die wegen einer Covid-Infektion sofort gefeuert wird, bis zur chilenischen Barmanagerin in Kalifornien, die sich als Lehrerin beruflich völlig neu findet als die Gastronomie über Monate geschlossen bleibt – was die Porträtierten verbindet, ist die Tatsache, dass sie alle eine Migrationsgeschichte haben, die sich auf ihr Leben während der Pandemie unmittelbar ausgewirkt hat.“
Inwiefern, davon erzählen die Migrant*innen selbst, anstatt dass, wie so oft, nur über sie gesprochen wird. ,,Ein Forschungsansatz hinter dem Projekt ist es, Erfahrungen von Migrant*innen teilbar zu machen – mit Wissenschafter*innen, mit einer breiten Öffentlichkeit, und schlussendlich auch mit politischen Entscheidungsträger*innen. Die Projektbeteiligten – Migrant*innen wie Wissenschafter*innen – zeigen aus ihrer Perspektive persönliche Herausforderungen und strukturelle Schwierigkeiten auf, die Menschen rund um den Globus gerade in dieser Zeit verbinden oder eben auch trennen.“
Was uns jetzt alle verbindet
Es geht um Erlebnisse auf der Suche nach einem neuen Job oder einer neuen Wohnung während der Pandemie. Um die Schwierigkeit Kinder und Arbeit unter einen Hut zu bringen und die Sehnsucht, endlich wieder zurück nach hause gehen zu können. Universelle Themen, die auf die Bedeutung des sozialen Umfelds, (seelischer) Gesundheit und stabiler Beschäftigungsverhältnisse eingehen. Themen, die besonders während der Pandemie noch wichtiger geworden sind. ,,Kein Mensch ist darauf vorbereitet, wie es ist, wenn plötzlich große Teile des eigenen Soziallebens wegbrechen. Oder darauf, wie es ist sich allein und zunehmend isoliert zu fühlen. Während das Projekt anfangs auf das aktuelle Arbeitsleben der Protagonist*innen fokussiert war, wurde die psychologische und soziale Ebene im Gesprächsverlauf schnell mindestens genauso wichtig“, erzählt Bernadette.
Migrant*innen als Expert*innen
Dabei mussten sich Migrant*innen schon lange bevor die Pandemie begann mit prekären Arbeitsverhältnissen, sozialer Unsicherheit und eingeschränkter Mobilität auseinandersetzen. Nun sind wir fast alle – egal ob Migrant*in oder nicht – in dieser Ausnahmesituation gezwungen eigene Gewissheiten zu überprüfen. Wie komme ich zurecht, wenn keine Freund*innen und Familie in greifbarer Nähe sind; wenn die Bewegungsfreiheit innerhalb der eigenen Stadt oder zwischen Ländergrenzen plötzlich eingeschränkt ist? ,,Man muss keine eigene Migrationserfahrung haben, um mit diesen Geschichten etwas anfangen zu können. Es geht um Dinge, die wir alle gerade in unterschiedlichen Intensitäten erleben – und für die Migrant*innen durch ihre Lebenserfahrungen möglicherweise schon länger Expert*innen sind.“
Eine Kollektion von persönlichen Geschichten
„Migrant Lives in Pandemic Times“ versammelt filmische Kurzportraits von zwölf Migrant*innen, begleitet von Videostatements und Texten von Wissenschafter*innen. Im Zentrum stehen die Geschichten der Migrant*innen. Die Wissenschaftler*innen ordnen in ihren Beiträgen die Erfahrungen der Portraitierten in einen globalen und politischen Zusammenhang ein. Ihre Analyse verdeutlicht, welche Rolle der Staat und informelle Unterstützungsnetzwerke spielen, und wie die Politik Migrant*innen in Krisensituationen mitunter vernachlässigt. Gleichzeitig geben sie auch einen Ausblick darauf, durch welche Maßnahmen Migrant*innen auf gesamtgesellschaftlicher und individueller Ebene unterstützt werden können. Teilweise sind es kleine, ganz konkrete Maßnahmen, die einen großen Unterschied machen. So soll das Projekt auch politische Entscheidungsträger*innen ansprechen. Die Videos sind online auf der Website und in einer Playlist auf youtube frei zugänglich und können, wie alle Videos von Migration Matters, gerne von Einzelpersonen, Institutionen und Vereine weiterverwendet werden. Sie sind ,,dazu gemacht geteilt und diskutiert zu werden“, betont Sophia.
Wer dahinter steht
Das Projekt ist eine Zusammenarbeit von ,,Migration Matters“, einer Non-Profit Organisation mit Sitz in Berlin, und dem Canada Excellence Research Chair (CERC) in Migration and Integration an der Ryerson University in Toronto, Kanada. ,,CERC Ryerson hat ein internationales Netzwerk an Migrationsforscher*innen zusammengebracht. Wir von Migration Matters haben mit ihnen ein multimediales Projekt entwickelt, wie Wissen von Betroffenen und Wissenschaftler*innen medial am besten aufbereitet und zugänglich gemacht werden kann. Diese Form von institutionen-übergreifender Wissenschaftskommunikation wird in der Zukunft eine immer größere Rolle spielen.“ sind sich Bernadette und Sophia sicher. „Migration Matters“ sieht sich dabei als Vermittlerin, die akademisches Wissen für ein breiteres Publikum zugänglich macht. „Wir möchten damit einen Beitrag leisten, dass Diskussionen über Migration insgesamt nuancierter werden und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen statt nur auf Meinungen basieren.“
Kein Top-down Projekt
Neben dem Ziel, eine möglichst diverse Gruppe von Menschen mit Migrationsgeschichte vorzustellen, war es dem Team wichtig, eine Vertrauensebene zu den Protagonist*innen aufzubauen. Die Migrant*innen geben tiefen Einblick in ihre Geschichte und Person. Sie ermöglichen echte Lebenseinblicke und nehmen das Filmteam teilweise auch mit in ihr altes oder neues Zuhause. ,,Vertrauen ist ein wichtiger Punkt in unserem Ansatz. In diesem Projekt treffen sich Menschen mit Neugier und Respekt, und jede*r ist dabei ein*e Expert*in in einem bestimmten Bereich. Wir wollen nicht, dass es top-down ist, dass Wisschenschaftler*innen sich Statements abholen, die sie so vorher schon im Kopf hatten, sondern dass die Protagonist*innen wirklich sagen, was ihnen wichtig ist. Dass sie ihre Geschichte aktiv mitgestalten Dass sie entscheiden können, was sie zeigen – und was nicht!“
Dabei begleitete das Team von „Migration Matters“ die Wissenschaftler*innen und Migrant*innen durch Gruppen Coachings und Trainings im Prozess. Außerdem vermittelte es Einblicke in Digital Storytelling und die praktische Planung von Dreharbeiten. ,,Wir nehmen da eher eine unterstützende Position ein. Die Migrant*innen und Wissenschafter*innen sind die wahren Autoren ihrer Geschichten.“
Verbindungen, die auch nach Corona bleiben
,,Unser Ziel ist erfüllt, wenn diese Kurzporträts dazu beitragen, dass man sich einfach von Mensch zu Mensch in Verbindung setzt – ohne gleich in Kategorien zu denken. Und wenn Menschen interessiert über den eigenen Tellerrand blicken und damit etwas mehr Verständnis für das Leben anderer entwickelen.“ Die Videos verdeutlichen, welche Rolle Politik und Solidarität im Alltag von zwölf Migrant*innen während der Pandemie spielen. Vor allem aber zeigt „Migrant Lives in Pandemic Times“, was uns alle auf menschlicher Ebene verbindet.