Ich habe Schwierigkeiten beim Aufstehen. Der Tag beginnt normal. Auf dem Weg zur Bushaltstelle esse ich einen Apfel zum Frühstück und die Straße ist menschenleer. Die Sonne scheint, die Vögel singen, die Bäume sind grün und ich denke mir, heute ist das glückliche Ende des Wartens, von dem alle sprechen. Ich nehme den Bus, erreiche den Bahnhof und steige in die S-Bahn ein. Ich langweile mich und fange zu lesen an, finde nach zwei, drei, vier Zeilen ein Wort – ein Fremdes: „Advokat“. Das habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gehört. Ich frage meinen besten Freund, den Google-Übersetzer, nach der Bedeutung. Ich lerne es dann. Was ist denn daran so schlimm? Ich lebe hier, lerne die Sprache, finde bald einen Job. Es ist doch gut so.
Ich steige am Hauptbahnhof in die U-Bahn um. Die ist genau so leer wie die S-Bahn. Ich höre alle fünf Minuten die Durchsage zu dem Mund-Nasen-Schutz. Eine Obdachlose steigt ein. Ich sehe sie und sie mich. Sie hat bessere Kleidung im Vergleich zu anderen Obdachlosen. Warum ist sie denn jetzt obdachlos geworden? Eine Bekannte hat mir erzählt, der Staat hat gesagt, wir müssen die Miete und so nicht bezahlen, aber sie hat alles bezahlt. Ich habe ihr damals nicht so richtig zugehört. Ich weiß auch nicht, ob das stimmt. Den Nachrichten folge ich seit langem nicht mehr. Ich glaube, Politik ist nicht zu behaupten, sondern zu erleben. Die Augen dieser obdachlosen Frau versetzen mich in tiefe Melancholie. Ich habe leider diese Krankheit, dass ich mich immer in die anderen Menschen einfühlen muss.
Weißt du, wie das ist, mein liebes Tagebuch? Empathie ist wie Sprachenlernen. Du gibst deine Muttersprache auf, um mit einer Sprache zu sprechen, die wie Krebs, wie Pest oder wie eine psychische Krankheit deinen ganzen Körper erfüllt. „Liebe Fahrgäste, bitte helfen Sie mit! Tragen Sie einen Mund-Nasen-Schutz! So schützen wir uns alle gemeinsam.“
Ich steige aus, nehme den Bus und fahre bis zum Barkoppelweg. Ich laufe, bis ich das Ziel erreiche und dabei höre ich den Vögeln zu. Plötzlich steht vor mir ein weißes Schild: „Ankunftszentrum“. Ich gehe hinein. Neben dem Eingang gibt es einen kleinen Container, in dem ich meinen Terminzettel vorzeigen muss. Da sitzen drei Securities. Einer muss meinen Namen in den Computer tippen, sagt dann: „Dein Nachname ist wie ein Endkampf! Setz dich hin.“ Ich lache und setze mich neben einen anderen Flüchtling.
Die Securities sprechen miteinander. Einer hat einen starken iranischen Akzent, starrt mir zwischendurch in die Augen und jedes Mal schaue ich weg. Ich habe keine Lust zu erklären, aus welcher Stadt im Iran ich komme, seit wann ich hier bin, was ich mache und so weiter. Nein, nicht heute. Ein wenig später spricht er den jungen Mann neben mir auf Arabisch an. Ich hatte mich geirrt, er ist kein Iraner. Es ist immer noch dieselbe Flüchtlingsaufnahme, in der ich vor drei Jahren angekommen bin. Damals habe ich entweder gar nichts oder alles falsch eingeordnet. Nach drei Jahren verstehe ich Vieles richtig, aber nicht hier, nicht im Ankunftszentrum.
Ein Security kommt hinein und als Erstes schreit er uns alle an: „Was will der?“ Der andere Security übersetzt das auf Arabisch, der Flüchtling antwortet etwas und der Security übersetzt wieder: „Er hat keinen Ausweis.“ Der Flüchtling holt einen Zettel heraus und zeigt ihn dem Deutschen. „Tja, das ist aber abgelaufen.“ Und er schreit wieder: „Warum kommst du immer hier her?! Warum kommt ihr immer hier her?!“ Der junge Mann fängt an, auf Arabisch zu schreien, der Security übersetzt, und ich gehe zum Mitarbeiter am Computer: „Bitte lassen Sie mich rein, ich habe gleich einen Termin.“
20 Monate habe ich in solchen Aufnahmen gewohnt. Ich habe genug. Da drin gibt es eine große Halle. Das ist der Warteraum. Ich werde drei Mal kontrolliert, einmal vom Security am Anfang der Schlange, obwohl es keine Schlange gibt, einmal von einer Ärztin und danach wieder von einem Security, den ich schon öfter hier gesehen habe. Doch denk bitte nicht, dass es so viel Kontrolle wegen Corona gibt, mein liebes Tagebuch. Hier ist es immer so.
Als ich das Sekretariat erreiche, habe ich keine Kraft mehr. Das ist nicht wegen dieser Kontrolle, sondern wegen ständiger Kontrolle, wegen dreijähriger Kontrolle. Auch du, mein liebes Tagebuch, hättest keine Kraft mehr, wenn du ein Mensch wärst, der nach Deutschland geflüchtet ist. Du bist aber nicht aus Fleisch und Blut, mein liebes Tagebuch, du bist aus Papier und ich setze dich unter Druck. Ich drücke deine Blätter zusammen und stecke dich in eine Schublade und du musst warten und warten und warten. Eine dreijährige Wartezeit ist dein Urteil. Du bekommst Duldung, wie der Serbe im Roman von Saša Stanišić. „Du bist hier geduldet.“
Und ich sage dir, nach drei Jahren wirst du im Warteraum sitzen, deine Nummer wird aufgerufen, ein Security wird dich doch nicht reinlassen. Er wird deine Tasche zur Sicherheit wegnehmen. Das ist die vierte Kontrolle, wirst du zählen, und dann wird dich eine Beamtin abholen. Sie wird nett sein. In ihrem Büro werden vier Stempel auf dem Tisch liegen. Zwei wirst du nicht sehen können. Einer wird mit dicken Buchstaben „UNGÜLTIG“ heißen und der andere „Freie Hansastadt Hamburg“ und wenn du ein Schicksal wie meines hättest, würde die nette Beamtin für dich den Stempel nutzen, der dir einen dreijährigen Aufenthalt, eine dreijährige Arbeitserlaubnis und einen Reisepass zusichert, der eben drei Jahre gültig ist. Zusätzlich wird sie dir deinen iranischen Pass zurückgeben und sagen, du darfst in alle Ländern reisen – außer in den Iran.
In diesem Moment wirst du auf dein Bild im iranischen Pass anschauen, der für immer gültig ist, und merken, dass dein Bild in einer Zeit gemacht worden ist, die nie wiederholen wird. Später wirst du Tagebuch schreiben, mein liebes Tagebuch, und dabei wirst du an den Satzbau, an Hauptsatz, Nebensatz und an Germanistik denken müssen, weil du in einer Sprache schreibst, die wie Krebs, wie Pest oder wie eine psychische Krankheit deinen ganzen Körper erfüllt und dann zerstört. Du bist aber kein Mensch, mein liebes Tagebuch. Du musst nicht flüchten, bist bei mir herzlich willkommen. Dein Urteil ist keine Duldung oder Abschiebung, sondern die Aufnahme der Politik.
Auf dem Weg nach Hause kommt der Flüchtling in der Bahn zu mir und spricht mich auf Arabisch an. Ich erkläre ihm, dass ich nur Persisch, Englisch und Deutsch kann und kein Arabisch, Spanisch und Französisch wie er. Er erzählt mir, dass er keinen Ausweis hat und ich sage: „Ja, das habe ich verstanden. Hast du einen Anwalt?“ Er starrt mich lautlos an und ich sage: „Anwalt, Lawyer, do you have a lawyer?“ Er fragt: „Advokat?“ „Ja, ja, ja, Advokat hast du?“ Und er erklärt mir, dass er keinen Asylantrag gestellt hat. Er wollte in die Schweiz fliehen, aber jetzt sind die Grenzen wegen der Corona-Pandemie zu. Er muss jetzt wegen der Polizei einen Ausweis von Deutschland bekommen.
Das Einzige, was mir einfällt, ist, dass er in der Ausländerbehörde fragen soll. Er stimmt zu und steigt aus. Auch von mir ist er enttäuscht. Ich steige am Hauptbahnhof aus und laufe zur S-Bahn. Eine Frau schreit um Hilfe. Ich gehe weg, nehme die S-Bahn, dann den Bus und als ich zur Wohnung laufe scheint die Sonne, die Vögel singen, die Bäume sind grün und ich fühle, wie der Wind durch meinen Körper weht.
Diese Geschichte ist im Schreibtandem mit Natalia Grote entstanden.
Eine Antwort
Diese Geschichte ist sehr schön geschrieben und sie hat mich sehr berührt.