Das Geheimnis der Melodie 

Familie, Trauer und Einsamkeit können schwierige Themen sein. Shereen Sayda geht ihnen hier auf den Grund.

Fotograf*in: Ebuen Clemente Jr auf unsplash

„Meine Oma kann nicht schlafen, in ihrem Haus gibt es ein Gespenst“, sagte ein Freund von mir, als ich ihn nach seinem Sonntagsbesuch bei seiner Großmutter fragte. Jede Nacht, wenn die 82-jährige Heike sich schlafen legt, hört sie eine zarte, dünn klingende Melodie – Klaviermusik. Dieser Klang dringt hartnäckig in ihre Ohren, obwohl ihr Hörgerät auf dem Tisch neben ihr liegt, erzählte mir der Freund.

Zuerst war ich erstaunt darüber, wie viele Geschichten und Details er über Heike kannte. Bei seinen Besuchen spielten sie jedes Mal Karten, kochten gemeinsam oder sprachen über vergangene Zeiten. Ein Gefühl von Neid stieg in mir auf, aber gleichzeitig schämte ich mich, denn im Vergleich dazu wusste ich nichts über meine eigene Großmutter. Seit meiner Flucht hatte der Kontakt abgenommen, und ich wusste nicht mehr, wie es ihr wirklich ging. Wenn wir aber versuchten zu facetimen, dauerte es nicht mal fünf Minuten, bis das Internet plagte, der Strom ausfiel und ihr Gesicht verschwand. Immer wieder spürte ich, dass vieles unausgesprochen zwischen uns blieb.

„Im Vergleich dazu wusste ich nichts über meine eigene Großmutter“

Aber nochmal zurück zur Klaviergeschichte. Als das Enkelkind von Heike sie besuchte, hörte er die Melodie, wenn auch nur ganz leise. Er verstand aber nicht, warum sie so empfindlich darauf reagierte, denn normalerweise musste er laut sprechen, wenn sie sich unterhielten, und Heike hörte ihn trotzdem schwer. Ich wollte dieses Rätsel lösen, fragte ihn dann, was sich in ihrem Leben verändert habe, und erfuhr, dass es nicht lange her war, seitdem Heike ihren Mann verloren hatte. Mein Ergebnis ist, dass diese Empfindlichkeit durch Trauer und Einsamkeit verursacht werden könnte. Ich beschloss also, Heike selbst zu treffen und eine Geschichte über die Einsamkeit älterer Menschen und ihren Umgang mit dem Tod zu schreiben.

Ich machte mich auf den Weg zu ihr. Nahm mein Notizbuch und merkte, wie meine Hände zitterten. Ich war nervös. Denn es ist 10 Jahre her, seitdem ich ein langes Gespräch mit einer älteren Frau geführt hatte. Ich war besorgt, eine zerbrechliche Frau vor mir zu sehen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wenn sie anfängt zu weinen, mir ihre Entsetzlichkeit schildert oder mich nach existenziellen Antworten fragt. Ich merkte, wie ernsthaft dieses Thema war.

Vor einem Balkon voller Blumen, mit Tee und Kuchen auf dem Tisch, setzte ich mich ihr gegenüber. Wir sprachen über alles Mögliche – ihren Alltag, ihr früheres Leben – und ich merke, wie sich mein Ärger regte, wenn sie jedes Mal beim Kartenspielen gegen mich gewann. Doch dann kamen wir auf das Thema Tod und den Verlust ihres Ehemanns zu sprechen. Sie erzählte mir, dass sie ihn schon als Teenager kennengelernt hatte, und dieses Jahr wären sie eigentlich 60 Jahre zusammen gewesen. 

„Ich merkte, wie ernsthaft dieses Thema war“

Ich betrachte alte Fotos, während sie mich durch ihre Geschichte führte – zu dem Haus, das sie einst zusammen gekauft hatten, und dem riesigen Garten, den sie aufgrund ihres Alters aufgeben mussten. Dem Moment, als sie zusammen nach Gräbern suchten und sich fragten, ob sie sich jemals im Jenseits treffen würden. Sie teilte mit mir die Erinnerung an ihren letzten gemeinsamen Sonnenuntergang und den Geschmack des letzten Burgers. Bis zum letzten Moment, als er die Augen für immer schloss.

Während ich Tränen vergoss, lächelte sie mitfühlend und beruhigte mich mit einem aufmunternden Blick.

Ich weinte, denn mir blieb verborgen, wie meine Oma meinem Opa einst begegnete. Die letzten Worte meines Opas blieben mir unbekannt, ebenso was meine Oma zuletzt in sein Ohr flüsterte, seine letzten Wünsche und das letzte Essen, alles blieb mir fremd. Ich fühlte mich fern und zerbrechlich, von der Angst vor dem Tod ergriffen.

Rückblickend wurde mir klar, dass ich mit zahlreichen unbeantworteten Fragen belastet war, bezüglich allem, was kommen würde und vor allem bezüglich des Todes. Die Begegnung mit jemandem, der sich damit auseinandersetzte, der seinen geliebten Lebensgefährten verloren hatte und dennoch gelassen mit diesem Thema umging, verschaffte mir eine gewisse Erleichterung. Der Tod ist Heikes unermüdlicher Gefährte und jedes Mal, wenn er klingelt, öffnet sie ihm die Tür, empfängt ihn mit einem schweren Herzen und lässt ihn erst gehen, wenn er wieder verschwunden ist.

Als ich Heike fragte, ob sie die Klaviermelodie immer noch höre, antwortete sie mit einem bejahenden Lächeln und versicherte mir, dass sie den Takt des Liedes wieder spielen könnte. Es war ein vertrautes Lied aus ihrer Schulzeit, das in ihren Erinnerungen fest verankert war. Die Herkunft der Melodie blieb ihr immer noch ein Rätsel, doch seitdem sie Ohrenstöpsel verwendet, kann sie wieder ruhig schlafen.

 

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Shereen studiert Ethnologie an der Universität Hamburg. Ursprünglich kommt sie aus Syrien und ist 2016 nach Deutschland gefohen. Ihre Hauptinteressen liegen in den Bereichen Literatur, Film und gesellschaftliche Themen. Sie schreibt leidenschaftlich über alles, was ihre Begeisterung weckt und ihre Neugierde anspricht. Dabei bleibt sie stets aufmerksam, sei es in der Bahn, auf der Straße oder wo auch immer sie sich befindet, denn Geschichten finden sich überall in ihrer Umgebung.

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Freie Deutsch-Syrische Gesellschaft – Humanitäre Hilfe

Ehrenamtlich engagiert, um anderen zu helfen Außerdem bin ich ehrenamtlich sehr engagiert: in der Freie Deutsch-Syrische Gesellschaft e.V., einem Verein, der 2012 von meinem Vater in Kooperation mit mehreren Deutsch-Syrern, die alle schon lange hier in Deutschland leben, gegründet wurde. Ich persönlich bin auch seit 2012 mit dabei, habe also die Anfänge des Vereins, die ersten Schritte begleitet. Mittlerweile hat unser Verein so an die 25 Mitglieder. Ich selber bin auch Vorstandsmitglied, habe die Aufgabe des Schatzmeisters übernommen. Darüber hinaus bin ich aber in so ziemlich alle Aktivitäten unseres Vereins mit involviert. Das lässt sich ja als Schatzmeister auch gar nicht anders handhaben. Humanitäre Hilfe direkt vor Ort und in den Anrainerstaaten Wir haben zunächst überwiegend humanitäre Hilfe direkt vor Ort in Syrien geleistet. Das ging gut, weil wir viele Verbindungen nach Syrien haben. Freunde und Familie von uns leben dort. Wir hatten demnach also gute Kontakte, die wir nutzen konnten um vor allem über die Türkei Hilfsgüter in das Land zu transportieren. So haben wir die Menschen in dem von Krieg gebeutelten Staat mit Winterkleidung, Medikamenten und Babysachen versorgt, aber auch mit technischen Geräten. Und wir kümmern uns um diejenigen Syrer, die in die Anrainerstaaten geflüchtet sind. So haben wir zum Beispiel im Libanon den Aufbau einer Schule unterstützt und begleitet, ein Projekt, welches aktuell immer noch läuft und welches auch gut umsetzbar ist, ganz einfach aus dem Grund, dass der Libanon weitaus gefestigter und stabiler als Syrien ist. Es handelt sich dabei um eine Grundschule für Jungen und Mädchen. Sie bekommen dort Schulbildung und einen einigermaßen gefestigten Tagesablauf. Und ihnen werden auch Aktivitäten außerhalb der Schule angeboten, zum Beispiel Sport, Musikkurse oder gemeinsames Basteln. „Die Lage in Syrien ist vor allem für die ländliche Bevölkerung unerträglich“ Doch die Menschen in Syrien helfen sich vor Ort auch gegenseitig: So

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„Aktivismus ist meine Motivation“

Alaa Makki (32) ist eine Kämpferin mit turbulenter und inspirierender Biografie. Nach ihrem Studium in Syrien findet sie sich kurze Zeit später auf dem deutschen Arbeitsmarkt wieder – der ihr einige Steine in den Weg legte. Mit Kohero spricht sie über Aktivismus, die Bedeutung von Sprache und Willenskraft.

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Alia Familie. Privat

Kraft und Unterstützung durch Liebe

Ich habe ein Soziologiestudium in Syrien absolviert und als Schulsozialarbeiterin bei Unrwa  gearbeitet. Das ist das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Als Trainerin, Forscherin und freie Autorin engagierte ich mich für Frauen- und Kinderrechte. Was hast du bis jetzt hier gemacht oder gearbeitet? Wo arbeitest du? Seit fast 4 Jahren bin ich in Deutschland, wegen der Situation in meinem Land. Ich wohne und arbeite in Leipzig, wo ich mich als Ehrenamtliche bei der Diakonie engagiert habe. Dort habe ich geflüchtete Familien zu gewaltfreier Erziehung und häuslicher Gewalt beraten. Gleichzeitig habe ich mich ehrenamtlich bei DaMigra engagiert. Seit 3 Jahren bin ich Projektmitarbeiterin bei DaMigra. Das ist der Dachverband der Migrantinnenorganisationen. Wir kämpfen für die Unterstützung von Migrantinnen und geflüchteten Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern, damit sie ein selbstständiges Leben führen und sich in Deutschland integrieren können. So organisieren und führen wir z.B  Veranstaltungen, Workshops, Trainings und Multiplikatoren-Schulungen zu Frauenrechten, interkulturellem Austausch und Gewalt gegen Frauen durch. Darüberhinaus  koordinieren wir uns mit anderen Institutionen im gleichen Arbeitsbereich. Du hast zwei Kinder und einen Mann und du hast Deutsch gelernt. In der selben Zeit hast du auch gearbeitet, wie hast du das alles geschafft? Eigentlich war es schwierig, eine Balance zu finden. Und ich muss sagen, dass ich noch immer mehr Deutsch lernen muss. Aber ich nehme meine Kraft aus der Liebe. Ich habe große Unterstützung und Liebe bekommen von meiner Familie, von DaMigra meinem Arbeitgeber, von meinen Freundinnen, und auch von meinem Lehrer und meiner Lehrerin bei InterDaf Institut. Unterstützung durch meine Familie Mein Mann hat mir überall geholfen. Er hat die Kinder durch meinen Deutschkurs alleine betreut und den Haushalt gemacht. Die ganze Zeit über hat er mir die Liebe und die Treue gegeben. Auch meine kleinen Kinder haben mich immer mit Liebe und Verständnis unterstützt. Kaum

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Integrationsprojekt „Über den Tellerrand“

Das Integrationsprojekt „Über den Tellerrand“ geht sprichwörtlich durch den Magen: Geflüchtete und Beheimatete kochen und speisen zusammen. Nachbarn lernen sich kennen, Kontakte können entstehen und wachsen. Das ist gelebte Integration. Inspiriert und unterstützt von „Über den Tellerrand e.V.“ in Berlin, haben sich in Hamburg viele einzelne Kochgruppen sowie bereits bestehende Initiativen und Vereine zu einem Netzwerk zusammengefunden. Sie organisieren verschiedene, teils stadtteilbezogene Kochevents. Zu den aktuellen Küchenlocations gehören unter anderem „Zinnwerke“ in Wilhelmsburg, „Embassy of Hope“ Thalia Theater in Altona/Ottensen, Kochschulen und Schulküchen. Ein Integrationsprojekt auf Augenhöhe Die „Über den Tellerrand“-Community wurde 2013 in Berlin gegründet und trägt seitdem dazu bei, dass die Integration in die Gesellschaft und soziale Teilhabe von Geflüchteten gelingt. Sie schafft Räume, ermöglicht Begegnung und Austausch auf Augenhöhe. Zudem fördert sie Freundschaften zwischen Neuankömmlingen und Beheimateten. Es werden beidseitig Vorurteile abgebaut, Offenheit und Respekt gefördert sowie Sprachkenntnisse und kulturelles Wissen weitergegeben. Das „Flüchtling-Magazin“ war auch bei einem dieser tollen Kochevents dabei und hat einen Fotobericht darüber zusammengefasst. Das vegane Menü vom 21.04.2018 Als Vorspeise wurde Carpaccio von roter Bete mit Orangenfilets auf Rucolabett sowie ein Meerrettich-Kurkuma-Dip mit frischem Koriander zubereitet. Als Hauptgericht kochten die Gäste „Chili sin Carne“ mit Sojagranulat und Grünkernschrot als „Hackfleischersatz“, dazu gab es gebackene mediterrane Polentaschnitten und polnischen Karottensalat. Zum Nachtisch wurden syrische „Basbousa“ und ein starker Espresso serviert. Mehr Informationen über diese großartige Initiative unter: Website: www.ueberdentellerrand.org („Über den Tellerand e.V.“) E-Mail: hamburg@ueberdentellerrand.org Facebook: www.fb.com/TellerrandHamburg „Über den Tellerrand Community HAMBURG“ freut sich immer über neue Gastköche, neue Kochgelegenheiten, Räume, Küchenlocations, Engagierte und Interessierte! Fotostrecke von Eugenia Loginova:

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Kategorie & Format
Shereen studiert Ethnologie an der Universität Hamburg. Ursprünglich kommt sie aus Syrien und ist 2016 nach Deutschland gefohen. Ihre Hauptinteressen liegen in den Bereichen Literatur, Film und gesellschaftliche Themen. Sie schreibt leidenschaftlich über alles, was ihre Begeisterung weckt und ihre Neugierde anspricht. Dabei bleibt sie stets aufmerksam, sei es in der Bahn, auf der Straße oder wo auch immer sie sich befindet, denn Geschichten finden sich überall in ihrer Umgebung.

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