„Meine Oma kann nicht schlafen, in ihrem Haus gibt es ein Gespenst“, sagte ein Freund von mir, als ich ihn nach seinem Sonntagsbesuch bei seiner Großmutter fragte. Jede Nacht, wenn die 82-jährige Heike sich schlafen legt, hört sie eine zarte, dünn klingende Melodie – Klaviermusik. Dieser Klang dringt hartnäckig in ihre Ohren, obwohl ihr Hörgerät auf dem Tisch neben ihr liegt, erzählte mir der Freund.
Zuerst war ich erstaunt darüber, wie viele Geschichten und Details er über Heike kannte. Bei seinen Besuchen spielten sie jedes Mal Karten, kochten gemeinsam oder sprachen über vergangene Zeiten. Ein Gefühl von Neid stieg in mir auf, aber gleichzeitig schämte ich mich, denn im Vergleich dazu wusste ich nichts über meine eigene Großmutter. Seit meiner Flucht hatte der Kontakt abgenommen, und ich wusste nicht mehr, wie es ihr wirklich ging. Wenn wir aber versuchten zu facetimen, dauerte es nicht mal fünf Minuten, bis das Internet plagte, der Strom ausfiel und ihr Gesicht verschwand. Immer wieder spürte ich, dass vieles unausgesprochen zwischen uns blieb.
„Im Vergleich dazu wusste ich nichts über meine eigene Großmutter“
Aber nochmal zurück zur Klaviergeschichte. Als das Enkelkind von Heike sie besuchte, hörte er die Melodie, wenn auch nur ganz leise. Er verstand aber nicht, warum sie so empfindlich darauf reagierte, denn normalerweise musste er laut sprechen, wenn sie sich unterhielten, und Heike hörte ihn trotzdem schwer. Ich wollte dieses Rätsel lösen, fragte ihn dann, was sich in ihrem Leben verändert habe, und erfuhr, dass es nicht lange her war, seitdem Heike ihren Mann verloren hatte. Mein Ergebnis ist, dass diese Empfindlichkeit durch Trauer und Einsamkeit verursacht werden könnte. Ich beschloss also, Heike selbst zu treffen und eine Geschichte über die Einsamkeit älterer Menschen und ihren Umgang mit dem Tod zu schreiben.
Ich machte mich auf den Weg zu ihr. Nahm mein Notizbuch und merkte, wie meine Hände zitterten. Ich war nervös. Denn es ist 10 Jahre her, seitdem ich ein langes Gespräch mit einer älteren Frau geführt hatte. Ich war besorgt, eine zerbrechliche Frau vor mir zu sehen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wenn sie anfängt zu weinen, mir ihre Entsetzlichkeit schildert oder mich nach existenziellen Antworten fragt. Ich merkte, wie ernsthaft dieses Thema war.
Vor einem Balkon voller Blumen, mit Tee und Kuchen auf dem Tisch, setzte ich mich ihr gegenüber. Wir sprachen über alles Mögliche – ihren Alltag, ihr früheres Leben – und ich merke, wie sich mein Ärger regte, wenn sie jedes Mal beim Kartenspielen gegen mich gewann. Doch dann kamen wir auf das Thema Tod und den Verlust ihres Ehemanns zu sprechen. Sie erzählte mir, dass sie ihn schon als Teenager kennengelernt hatte, und dieses Jahr wären sie eigentlich 60 Jahre zusammen gewesen.
„Ich merkte, wie ernsthaft dieses Thema war“
Ich betrachte alte Fotos, während sie mich durch ihre Geschichte führte – zu dem Haus, das sie einst zusammen gekauft hatten, und dem riesigen Garten, den sie aufgrund ihres Alters aufgeben mussten. Dem Moment, als sie zusammen nach Gräbern suchten und sich fragten, ob sie sich jemals im Jenseits treffen würden. Sie teilte mit mir die Erinnerung an ihren letzten gemeinsamen Sonnenuntergang und den Geschmack des letzten Burgers. Bis zum letzten Moment, als er die Augen für immer schloss.
Während ich Tränen vergoss, lächelte sie mitfühlend und beruhigte mich mit einem aufmunternden Blick.
Ich weinte, denn mir blieb verborgen, wie meine Oma meinem Opa einst begegnete. Die letzten Worte meines Opas blieben mir unbekannt, ebenso was meine Oma zuletzt in sein Ohr flüsterte, seine letzten Wünsche und das letzte Essen, alles blieb mir fremd. Ich fühlte mich fern und zerbrechlich, von der Angst vor dem Tod ergriffen.
Rückblickend wurde mir klar, dass ich mit zahlreichen unbeantworteten Fragen belastet war, bezüglich allem, was kommen würde und vor allem bezüglich des Todes. Die Begegnung mit jemandem, der sich damit auseinandersetzte, der seinen geliebten Lebensgefährten verloren hatte und dennoch gelassen mit diesem Thema umging, verschaffte mir eine gewisse Erleichterung. Der Tod ist Heikes unermüdlicher Gefährte und jedes Mal, wenn er klingelt, öffnet sie ihm die Tür, empfängt ihn mit einem schweren Herzen und lässt ihn erst gehen, wenn er wieder verschwunden ist.
Als ich Heike fragte, ob sie die Klaviermelodie immer noch höre, antwortete sie mit einem bejahenden Lächeln und versicherte mir, dass sie den Takt des Liedes wieder spielen könnte. Es war ein vertrautes Lied aus ihrer Schulzeit, das in ihren Erinnerungen fest verankert war. Die Herkunft der Melodie blieb ihr immer noch ein Rätsel, doch seitdem sie Ohrenstöpsel verwendet, kann sie wieder ruhig schlafen.