Themen rund um die mentale Gesundheit sind mittlerweile in vielen Teilen der Gesellschaft angekommen. Auf TikTok in aller Munde, auf Instagram in vielen Infoposts nachzulesen sind Inhalte, die uns zum Nachdenken anregen, zum Reflektieren ermutigen und uns dazu bewegen sollen, in den Austausch zu treten. Dass Achtsamkeit, Empathie und Bedürfniswahrnehmung wichtig für uns selbst und das Miteinander sind, hören wir häufig. Auch, dass Psychotherapie zugänglicher sein sollte und der Platzmangel angegangen werden muss, ist bekannt. Psychotherapie für alle eben.
Aber auch 2023 ist es immer noch Fakt, dass das psychotherapeutische Versorgungssystem nicht darauf ausgelegt ist, den hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund – statistisch mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung, Tendenz steigend – zu entlasten. Dabei gibt es Ansätze, die genau das versuchen.
Kultursensible Psychotherapie
Die sogenannte kultursensible Therapie legt den Fokus darauf, Menschen, die in und mit anderen Kulturen aufgewachsen sind, entsprechend angepasst und offen zu begegnen. Dabei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Personen mit Migrationsgeschichte häufig sowohl andere Traditionen als auch religiöse Überzeugungen mitbringen und von diesen geprägt sind. Auch ein anderer Umgang mit Gesundheit und Krankheit oder sprachliche Barrieren können eine große Rolle spielen. Ziel einer kultursensiblen Therapie ist es, Betroffenen ganzheitlich gerecht zu werden. Das bedeutet, sensibel für die Besonderheiten im Alltag und die Bedürfnisse der Patient*innen zu sein, um die Versorgung zu verbessern oder sie überhaupt erst zu ermöglichen.
Interkulturelle, transkulturelle oder kultursensible Therapie sind Schlagwörter, denen Psychologiestudierende, angehende Therapeut*innen und Therapieinteressierte in Artikeln und vereinzelten Vorträgen begegnen – da hört es dann aber schnell wieder auf. Universitäten erhalten zwar Förderungen, um der Forschung in dem Bereich nachzugehen, doch fester Bestandteil der universitären Lehre sind sie immer noch nicht.
Werden Themen wie Flucht und Migration doch aufgegriffen, übernehmen dies meist weiße Lehrpersonen, die in ihrer Arbeit selbst rassistische Stereotype reproduzieren und aus ihrer Perspektive nicht heraustreten können. In Therapien kann es dann dazu kommen, dass Betroffene Therapeut*innen begegnen, die weder über Verständnis, Sensibilität noch ausreichende Kompetenzen verfügen, und nicht selten Hilfesuchende abschrecken, wenn nicht sogar zusätzlich belasten. Das ist nicht verwunderlich, denn selbst wenn sich (angehende) Therapeut*innen diesen relevanten Themen widmen und sie in ihre Arbeit einfließen lassen möchten, sind sie auf externe Workshopangebote, Seminare und Fortbildungen angewiesen. Auszubildende können sich diese anrechnen lassen, die Kosten müssen sie allerdings meist selbst tragen.
„Intersektionalität bleibt ein Fremdwort“
Weiße, privilegierte Professor*innen schreiben Handbücher über und für von Benachteiligung betroffene, migrantische und häufig rassifizierte, nicht-homogene Gruppen. Was zu kurz kommt, sind soziologische und demographische Faktoren, die das Leben von Menschen maßgeblich prägen. Dabei wäre es gerade in einem Land wie Deutschland – dessen Geschichte durchzogen ist vom Unterdrücken der „Anderen“ – so wichtig, diese Themen konkret und differenziert zu vermitteln. Nur so kann ein realistisches Bild der Gesellschaft abgebildet und diesem aktiv entgegengetreten werden.
Diskriminierung und Rassismus finden genauso wenig Raum im Lehrplan. Strukturelle Benachteiligung hinsichtlich verschiedener Gesichtspunkte – Armut, ethnische Zugehörigkeit, Sexismus, Ableismus – werden somit unsichtbar. Intersektionalität bleibt ein Fremdwort. Migration und Flucht implizieren oftmals Veränderungen und psychische Traumata, bedeuten aber nicht zwingend bemerkbare, sich äußernde psychische Probleme. Betroffene können aber je nach individuellen Voraussetzungen und Umständen anfälliger für diese sein, eben weil sie häufig auch von anderen Umständen betroffen sind, die sie zusätzlich belasten.
Dabei haben Menschen mit Migrationshintergrund mit noch mehr Belastung zu kämpfen: sowohl individuell und strukturell als auch emotional. Erfahrene Unsicherheit, erlebter Integrations- und Assimilationsdruck, Isolation, und mangelhafte soziale Unterstützung wirken sich negativ auf die psychische Gesundheit aus.
Perspektiven von Menschen mit Migrationsgeschichte fehlen in der Forschung
Die Studienlage bietet Hinweise darauf, dass Betroffene im Allgemeinen mit einer schlechteren psychischen Gesundheit konfrontiert sind, sie ist jedoch selten aussagekräftig genug, um als repräsentativ zu gelten und somit Bewusstsein schaffen zu können. Das liegt unter anderem daran, dass Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der psychischen Verfassung von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Forschung so gut wie nie erfasst werden, was wiederum die Aussagekraft erheblich mindert.
Auch individuelle Migrationsprozesse und deren vielfältige Ursachen, Entwicklungsformen und die Äußerungsformen psychischer Erkrankungen können von den üblichen diagnostischen Kategorien unter Umständen nicht adäquat erfasst werden, da diese westlichen Kriterien und Definitionen entsprechen. Auch Ausdruck von Trauer und Angst können sich kulturspezifisch unterscheiden und erfordern somit eine dynamischere Diagnostik.
Dazu kommt, dass komplexere Sachlagen wie beispielsweise aufeinanderfolgende traumatische Ereignisse und Lebenssituationen nicht berücksichtigt werden. Eine Posttraumatische Belastungsstörung wird zum Beispiel durch die Erfassung eines punktuellen, an einem bestimmten Punkt beginnenden und endenden Ereignisses diagnostiziert. Für viele Menschen bleibt es jedoch nicht bei einem festzulegenden Ereignis. Eine traumatische Flucht umfasst mehrere Orte, Zeitpunkte, Wege, Sprachen, Interaktionen, Verluste, Gefühle.
Taten sind nötig
Was muss sich also verändern? Zunächst ist es wichtig, dafür einzustehen, dass Fortbildungen in ihrer Anzahl steigen, mehr Aufmerksamkeit erlangen und barrierefrei zugänglich gemacht werden. Vor allem ist entscheidend, kultursensible Inhalte an den Universitäten zu etablieren. Auch wenn eine Forschungsgrundlage bereits existiert, braucht es mehr Studien, die sich mit den Zusammenhängen zwischen Migration und der Anfälligkeit für psychische Störungen in Deutschland beschäftigen – ohne entscheidende soziale Faktoren auszuklammern. Es ist an der Zeit, performative Aushängeschilder von Universitäten, die sich mit der Flucht- und Migrationsforschung schmücken, in Taten umzuwandeln. Und Strukturen, die ein reflektiertes Auseinandersetzen verhindern, aufzulösen.
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