„Tikun Olam“ bedeutet „Die Reparatur der Welt“ auf hebräisch und beschreibt ein Prinzip aus der frühen Periode des rabbinischen Judentums. Demnach liegt die Gerechtigkeit in den Händen des Menschen. Man selbst ist dafür verantwortlich, die Welt so zu prägen, wie man sie sich vorstellt. Für die 24-jährige Judaistikstudentin Rebecca Rogowski ist dieses Konzept ein Leitbild, das ihr Handeln prägt und sie dazu inspiriert sich politisch zu engagieren.
Als Stipendiatin des jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studierendenwerks setzt sie sich für den interreligiösen Dialog im Rahmen des jüdisch-muslimischen Thinktank Karov-Qareeb ein. Dabei wählen die Mitglieder selber Themenschwerpunkte, um nicht einfach auf die Dominanzkultur der Gesellschaft zu reagieren. Man wolle ein eigenes Bild der Gemeinschaft zeichnen, um der oft verzerrten Fremdwahrnehmung entgegenzuwirken. Rogowski findet: Auch heute leben wir in einer Gesellschaft, in der jüdische Menschen kein Gehör finden.
Auf die Opferrolle reduziert
„Viele Leute lernen Juden nur als historisches Subjekt oder Opfer kennen“, beginnt die junge Frau zu erzählen. Die verschiedenartigen Facetten der Religion seien dabei kaum sichtbar. Als freiberufliche Referentin für jüdische Themen im Bereich Jugendbildung, erlebt sie, dass bereits in der Schule mit der Thematik nicht richtig umgegangen wird:
„Wir Juden werden immer wieder in diese Opferrolle gedrängt. Wir müssen „beschützt“ werden. Ich will aber nicht beschützt werden, von Menschen, die mich nur als Opfer verstehen“, sagt Rogowski.
Immer wieder werden jüdischen Zeitzeugen „rumgereicht, um von ihren traumatischen Erlebnissen zu erzählen“. Dadurch habe eine Vielzahl von Schüler*innen Angst, sich mit dem Thema wirklich auseinanderzusetzen. Stattdessen müsse es Stimmen auf der Täter*innen Seite geben, um tatsächlich Verantwortung zu übernehmen. „Deutsche Familien, die hier seit mehreren Generationen leben und Familie im dritten Reich hatten, müssen sich ihrer Familiengeschichte bewusst werden und diese thematisieren“. Nur so könne man sich mit den Geschehnissen beschäftigen, ohne stets ein Schuldgefühl weiterzugeben. Dies verhindere ein nachhaltiges Bewusstsein für die Vergangenheit, so Rogowski.
Über das Judentum aufklären
Um darüber hinaus allerdings ein umfassendes Bild des Judentums zu vermitteln, müsse man aber vor allem auch im Religionsunterricht anknüpfen. Es sei wichtig die Religion getrennt von der Geschichte Deutschlands kennenzulernen. „Im Religionsunterricht wird über andere Religionen aus der Sicht des Christentums geredet. Die Synagoge ist aber keine Kirche und der Rabbi ist auch kein Pfarrer“, kritisiert Rogowski. Ein Verständnis für das Judentum könne man nur schaffen, wenn sich Lehrer*innen über das Selbstverständnis der Gruppierungen informieren.
Dass man zugehörige Menschen der Religion nicht einlade, sei „ein riesiges Versäumnis“. Rogowski betont: „Man muss das Judentum auch abseits der Shoa betrachten. Die Leute haben oft keine Ahnung, dass es ein lebendiges und pluralistisches jüdisches Leben in Deutschland gibt“.
Struktur und Zugehörigkeit
Rogowski stammt aus einer säkularen Familie, also aus einer Familie mit jüdischen Atheist*innen, die sich zwar der Ethnoreligion zugehörig fühlen und so beispielsweise Feiertage feiern, aber nicht wie im herkömmlichen Sinne glauben. Sie wählte bewusst die Möglichkeit ihren Glauben auszuleben und jüdische Traditionen zu praktizieren.
„Manche Leute sehen das vielleicht als überholt und veraltet an, aber ich sehe es ein bisschen wie meinen Wegbegleiter“, erklärt sie. Mit der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, setzte sie sich genau auseinander. Dadurch entscheidet sie für sich welche der Bräuche sie befolgen will und welche nicht. „In meinem Alltag ist es nicht so, dass ich morgens, mittags und abends bete, aber ich versuche mich koscher-style zu ernähren“, erläutert sie.
Zudem beachte sie Sabbat. Der jüdische Ruhetag beginnt und endet am Freitag und Samstag mit dem Sonnenuntergang. In diesem Zeitrahmen ist das Arbeiten verboten, weshalb auch Rogowski den Tag nutzt, um Ruhe zu finden. Weder das Handy noch den Laptop schaltet sie an. All dies betrachtet sie in keiner Weise als Einschränkung. Jung und religiös zu sein bedeute für sie eine Struktur und einen Sinn von Zugehörigkeit zu haben, der sie an Familie und Geschichte bindet.
„Antisemitismus ist immer ein Teil Deutschlands gewesen“
Diese Geschichte aufzuarbeiten, sei wichtig, betont die junge Frau. Dabei dürfe man allerdings nicht vergessen, dass Antisemitismus ein von diesen Geschehnissen klar zu trennendes Phänomen sei, dass auch heute tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. „Antisemitismus ist immer ein Teil Deutschlands gewesen. Meine Mutter hat Antisemitismus erfahren und er ist auch ein permanente Teil meines Alltags“, berichtet Rogowski. Sie erzählt von einzelnen Erlebnissen in der Schulzeit und an der Universität. Doch ins Detail möchte sie nicht gehen:
„Jedes Mal, wenn ich wiederhole, was mir gesagt wird, gebe ich Raum für diese widerliche Ideologie“.
Anstatt Betroffene vereinzelt in Interviews und Beitragen anekdotenhaft von ihren Erfahrungen erzählen zu lassen, müsse man bereits in der Schule ein Gespräch über Antisemitismus initiieren. Bislang fehle diese Aufklärung gänzlich: „Es wird nicht erklärt was genau Antisemitismus ist, dass es diesen heute noch gibt und wie er sich äußert“.
Antisemitismus gewinnt an Akzeptanz
Das Resultat dessen sei insbesondere momentan zu erkennen. Im Zuge von Querdenker-Demonstrationen gewinne antisemitisches Gedankengut zunehmend an Akzeptanz. Auch Verschwörungstheorien würden immer öfter auf Resonanz treffen. Nicht zuletzt seien auch Vergleiche mit Anne Frank und Sophie Scholl Anmaßungen, die laut Rogowski Ausdruck eines fehlenden Verständnisses seien. Sie führt aus: „Wir müssen uns bei alldem überlegen, wie wir das strukturell auffangen können. Es zeigt mir, dass Deutschland, obwohl es sich auf die Erinnerungskultur beruft, zum Teil im Bildungswesen versagt hat“.
Dieser Artikel wurde auch auf Englisch veröffentlicht.