In Fluchtbegriffe blicken

Im Zuge der Diskussion um Asylgewährung bei ökonomischen Fluchtursachen tauchen häufig Begriffe auf, die schnell von bestimmten politischen Gruppen erdacht und von den Medien in die Welt hinausgetragen werden – mit teils dramatischen Folgen. Doch verraten diese Worte oft auch eine versteckte Wahrheit. Till Geginat mit einem Kommentar.

Fotograf*in: Roger Bradshaw on Unsplash

Nehmen wir an, ein junger Mann aus dem Kosovo flieht nach Deutschland. Normalerweise wird dann in Erfahrung gebracht, warum er geflüchtet ist oder wovor. Das dient formal der Prüfung, ob und wie derjenige in einem Asylverfahren behandelt werden soll. Allerdings bietet es auch bestimmten gesellschaftlichen und politischen Akteuren die Möglichkeit, das Bild von unerwünschten Migrant*innen zu zeichnen.

Neben diffamierenden Bezeichnungen, die vor allem rassistische Ressentiments bedienen, taucht aber auch ein Wort auf, das sich auf den ersten Blick problemlos zu den anderen gesellen könnte. Die Rede ist vom „Wirtschaftsflüchtling“. Liberale, Sozialdemokrat*innen, Konservative und Rechte haben dieses Schlagwort gleichermaßen benutzt. Es scheint ein gewisser Konsens darüber zu bestehen, sobald Menschen aus scheinbar rein ökonomischen Gründen in ein anderes Land flüchten. Aber was ist eigentlich so verwerflich daran?

Ökonomische Ungleichheit

Nehmen wir an, der junge Mann sei Deutscher und kein Kosovare, und flüchte auch nicht nach Deutschland, sondern ziehe von Emden nach Stuttgart. Er stamme aus armen Verhältnissen und schaffe es doch, einen hohen Bildungsabschluss zu erlangen und einen gut dotierten Posten zu ergattern. Die etablierte Politik würde diesen Mann beglückwünschen und diese Geschichte eines sozialen Aufstiegs als Einlösung des deutschen Leistungsversprechens verkaufen. Und der Kosovare? Noch bevor er sein Glück versuchen kann, droht ihm schon die Abschiebung. Eine ökonomische Perspektive ist kein anerkannter Fluchtgrund.

Diese Unterscheidung wird selten bedacht. Es ist nur logisch, aus einer wirtschaftsschwachen Region in eine wirtschaftsstarke zu ziehen, um die Lebenssituation zu verbessern und z.B. Bildung zu erhalten. Es gibt oft eine ökonomische Ungleichheit zwischen Herkunftsland und Zufluchtsland, die Menschen in die Migration treibt. Diese ökonomisch motivierte Migration kann überdies auch mit anderen Fluchtursachen (z.B. Krieg) zusammenhängen, die die ökonomische Situation im Herkunftsland noch verschlimmern. Schließlich wird diese Ungleichheit vom Zufluchtsland vielleicht nicht aktiv gewollt, mindestens aber hingenommen, um so seinen hohen zwischenstaatlichen Wettbewerbsvorteil zu garantieren.

Chancengleichheit?

Man sollte sich in diesem Zusammenhang aber nicht vorschnell der häufig im Inland propagierten Forderung nach Chancengleichheit anschließen. Diese Forderung sagt nämlich aus, dass es eine allgemeine Ungleichheit gibt, und impliziert zugleich, dass diese Ungleichheit von der Verantwortung des Staates, der Bildungsinstitutionen usw. in die Verantwortung des Einzelnen verlegt werden müsse: Wenn jemand aus prekären Verhältnissen stammt, könne er zwar durch Anstrengung z.B. höhere Bildung erlangen, es wird dabei aber nicht auf seine soziale Herkunft geachtet, da alle die gleiche Chance bekommen sollen. Durch ihre soziale Herkunft Bessergestellte haben es aber leichter, an einen Bildungsplatz zu gelangen, weil sie bessere Startchancen haben.

Erschwerend kommt hinzu, dass es nur eine begrenzte Anzahl an Bildungsplätzen gibt. So bleibt der Wettbewerb erhalten und an der grundlegenden Ungleichheit zwischen den Schichten wird nichts geändert. Der Pädagoge Helmut Heid fasst es prägnant zusammen: „Mit der Forderung nach Chancengleichheit wird ein sozialstrukturelles Problem in ein scheinbar individuell lösbares Bildungsproblem verwandelt.“

Der Deutsche aus dem obigen Beispiel mag seine Chance bekommen und genutzt haben, sozial aufzusteigen – allerdings zu dem Preis, dass es andere nicht geschafft haben. Im Gegensatz dazu erhält der Kosovare nicht einmal die Chance, es versuchen zu können, weil ihm durch die Asylpolitik kein Zugang gewährt wird, die auch die heimische Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz „geschützt“ sehen will.

Die richtigen Schlüsse ziehen

Dabei hat z.B. Deutschland wegen des demografischen Wandels und der Untätigkeit in der Beschäftigungspolitik Arbeitssuchende aus dem Ausland dringend nötig. Laut einer Berechnung von Unternehmensberater*innen koste der Fachkräftemangel Deutschland umgerechnet ca. 86 Mrd. Euro jährlich an Wirtschaftsleistung. Arbeitslücken könnten durch Aufnahme von Migrant*innen aufgefüllt werden bzw. könnten sie nach abgeschlossener Ausbildung etc. in ihr Heimatland zurückkehren. Letzteres würde dazu beitragen, die Ungleichheit zwischen den Ländern abzubauen.

Die Gleichstellung des Wirtschaftsgeflüchteten mit dem inländischen Arbeitssuchenden wäre ein konsequenter Schritt zu mehr Chancengleichheit. Beispielweise müssten ausländische Bildungsabschlüsse anerkannt werden sowie Sprachkurse, administrative Hilfen und Kinderbetreuung angeboten werden. Die von Arbeitsminister Heil vorgeschlagene „Chancenkarte“, nach der auch demjenigen Asyl gewährt werde, der von vier Kriterien (Sprachqualifikation, Berufserfahrung, Ausbildung und Alter) drei erfülle, wäre ein Schritt in Richtung Chancengleichheit. Viel wichtiger wäre jedoch die Bekämpfung der Ungleichheit sowohl im Inland als auch zwischen dem wirtschaftsstarken Aufnahmeland und dem wirtschaftsschwachen Herkunftsland.

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