Ich schaue aus dem Fenster… Teil 2

Seit März lebt Kseniya mit ihrer Tochter in Hamburg, erst im Flüchtlingsaufnahmezentrum, später in einer Container-Unterkunft für Geflüchtete. In einer wiederkehrenden Kolumne blickt die Ukrainerin lyrisch aus ihrem Fenster, in die Welt und in sich selbst hinein.

„Die Geschichte meines Leben ist ein Teil der Geschichte meines Volkes“

Taras Schewtschenko

 

Wenn es furchtbar kalt ist, man selbst in einer warmen Jacke spazieren geht und das kleine Kind in einem T-Shirt mit nacktem Hintern auf den kalten Beton klettert, bricht einem das Herz. Aber du kannst nichts tun, denn selbst wenn du etwas sagst, werden sie dir nicht nur nicht zuhören, sondern dich auch „sehr weit weg“ schicken. Selbst wenn Sozialarbeiter*innen Bemerkungen machen, reagiert niemand auf sie. Solche Menschen, solche Erziehung. Offenbar sind sie an dieses Leben gewöhnt und es ist für sie normal. Aber für meinen gesunden Menschenverstand ist das abnormal, und ich kann nicht in Ruhe betrachten, was vor meinen Augen, vor meinen Fenstern geschieht.

 

Toilette

Unordnung, Schmutz und ständige Unsauberkeit sind zum festen Bestandteil des Lebens in unserer Containerstadt geworden.

Die Toiletten sind ständig schrecklich schmutzig. Kinder, und vielleicht auch Erwachsene, verstopfen ständig die Toiletten und Waschbecken. Kinder tragen ständig Sand heran und werfen ihn in die Toilette. Sie stapeln eine Menge Papier. Überall liegen Damenhygieneartikel herum, obwohl es Abfallkörbe gibt. Es ist sehr schwierig, aus der Masse der vorhandenen Toiletten in dem Gebiet eine zu finden, die benutzt werden kann.

Es riecht fürchterlich, schmutzig und von oben bis unten voll. Sogar die Türen sind kaputt, nicht nur die Schlösser in den Türen, sondern auch die Türen selbst. Die Toiletten sind ständig verqualmt. Obwohl die Sozialarbeiter*innen immer wieder Schilder mit den Aufschriften „Rauchen auf der Toilette verboten“, „Sauber halten“, „Nachspülen“, „Nichts in die Toilette werfen“ …. aufhängen, werden die Schilder stets abgerissen. Die meisten Menschen schenken ihnen keine Beachtung. Und das, obwohl die Reinigungskräfte jeden Morgen putzen. Und wieder muss mein Kind in all dem leben. In diesen unhygienischen Bedingungen.

 

Duschen

Auch das Duschen ist eine bittere Geschichte. In den ersten Tagen des Aufenthalts funktionierten von sechs Kabinen in einer Dusche mehr oder weniger nur drei. In denen wurden die Duscharmaturen einfach abgerissen. Und bei den anderen drei ist die Duschhalterung entweder an- oder ganz abgebrochen. Von den sechs Duschen ist keine einzige unversehrt geblieben. Es gibt noch mehr solcher Duschen. Es ist schmutzig. Haare, Körperpflegeprodukte und alle möglichen anderen Abfälle liegen verstreut herum, obwohl es Abfallkörbe gibt, auch in der Toilette.

Sowohl in der Dusche als auch in der Toilette wird oft eine Menge Wasser auf den Boden geschüttet. Und nicht, weil der Wasserhahn kaputt ist (obwohl die Wasserhähne auch meistens kaputt sind). Das Wasser…. ist ein „Spiel“ der Kinder, die das Wasser in irgendein Behältnis nehmen und es direkt auf den Boden schütten. Und den Eltern ist es wie immer egal.

Die Sozialarbeiter*innen sind einfach schockiert von all dem. Alles wurde und wird für das Wohl der Menschen getan. Damit sie sich auf der Flucht vor dem Krieg in einem fremden Land wie zu Hause fühlen. Und so „vergelten“ sie es… Natürlich gibt es auch Menschen, die sehr dankbar für alles sind, was für sie getan wird, und die sich normal verhalten, aber in unserem Lager sind sie leider die große Minderheit.

 

Das Bild meines Fensters

Der Morgen wechselt zum Tag, der Tag zum Abend, der Abend zur Nacht und die Nacht zum Morgen. Vor meinem Fenster ändert sich nichts, das Bild ist dasselbe, nur dass es von morgens bis abends im Tageslicht und von abends bis morgens im Licht der Laternen erscheint.

Von morgens bis abends wurde geschrien, gekämpft und geflucht. Unflätige Sprache ist ein fester Bestandteil des Vokabulars einiger Bewohner*innen. Selbst kleine Kinder, die noch nicht richtig sprechen gelernt haben, benutzen schon so schlimme Wörter, die ich mir damals nicht hätte leisten können.

Sie schämen sich nicht und haben vor nichts und niemandem Angst. Weder vor den Sozialarbeiter*innen unserer Containerstadt, noch vor Wachleuten oder gar der Polizei. Sie benehmen sich immer sehr trotzig und streiten mit jedem, sogar mit der Polizei.

Die Polizei und der Krankenwagen sind zu regelmäßigen Besuchern in unserer Stadt geworden. Einige Frauen arrangieren Kämpfe und Streitigkeiten untereinander. Jemand sah jemanden falsch an und alle „gingen in die Luft“. Und dann mischen sich ihre Ehemänner ein und alles beginnt …… Ein Haufen Wachleute kommt auf einmal, und mehrere Polizeitrupps treffen schnell ein, weil einer allein offenbar überfordert ist.

Es ist sehr beängstigend. Wenn etwa zwanzig Polizist*innen auf einmal vor den Fenstern auftauchen. Das habe ich noch nicht einmal in Filmen gesehen. Einige Polizist*innen brechen den Kampf ab, und andere stellen sich nebeneinander auf und umzingeln den Bereich, um zu verhindern, dass Leute, die sich unbedingt an der Schlägerei beteiligen wollen, mitmachen.

 

Aufwachsen

Und wieder wächst meine Tochter mit all dem auf.  Es ist sehr bitter und schwer für mich, dies alles zu bedenken. Einige Kinder der Bewohner*innen streiten sich nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Erwachsene. Die Kinder haben auch keine Angst vor anderen. Fremde machen immer wieder Bemerkungen über sie, aber sie reagieren überhaupt nicht.

Die Eltern kümmern sich überhaupt nicht um sie und erziehen sie nicht. Diese Kinder wachsen wie Unkraut am Straßenrand. Niemand erklärt ihnen etwas, sie lernen nur, indem sie das Verhalten ihrer Eltern beobachten. Sie sind immer schmutzig, barfuß, und die Kleinsten sind nackt. Ein nacktes Kind, wenn es kalt, heiß oder regnerisch ist, bei allen Wetterbedingungen. Sie sind schmutzig, vor allem die Kleinsten, die noch nicht einmal laufen können, klettern mit ihrem nackten Hintern auf den Asphalt, über den Boden, heben alles vom Boden auf und stecken es sich in den Mund. Es ist so beängstigend und es tut mir so leid für diese Kinder.

Ich schäme mich so sehr für die Bürger*innen, die sich auf diese Weise verhalten. Es ist traurig und bitter, dass man selbst wegen dieser Menschen verurteilt wird!

 

Weiße Wolken

Ich kann all das wirklich nicht ausstehen. Ich möchte die vom Schicksal und der Zeit gebrochenen Flügel ausbreiten. Sie auszubreiten und in den Himmel zu fliegen, in sein sanftes Blau. Sich in diesen weißen Wolken zu verstecken. Eintauchen in ihre weiße, weiche Luftigkeit. Um mich vor der ganzen Welt zu verstecken. Mich in mir selbst verlieren.

Fortsetzung folgt…..

 

 

Dieser Beitrag ist im Schreibtandem mit Yuliia Marushko und Johannes Campos entstanden.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
In Oman (Ukraine) studierte Kseniya Pädagogik und Grundschullehramt. Inzwischen lebt sie mit ihrer 8-jährigen Tochter in Hamburg und versucht, sich hier ein Leben aufzubauen. „Als ich realisierte, das ich geflüchtet bin (ein ‚Flüchtling‘) möchte ich mein Werdegang von Beginn bis zur Findung mein Selbst aufzeichnen und mitteilen, um Menschen mit ähnlicher Situation beizustehen.“

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