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Herr X – eine Geschichte

Die Autorin Sorour Keramatboroujeni ist eine genaue und sensible Beobachterin. In verschiedenen Flüchtlingsunterkünften hat sie das Unglück anderer Flüchtlinge intensiv wahrgenommen. Für Ihre Eindrücke und Erlebnisse findet sie im literarischen Schreiben eine Form des Ausdrucks. Im kohero Magazin wurden bereits mehrere ihrer Kurzgeschichten veröffentlicht. Heute: Herr X.

Es war das Ende von jenem Anfang, der nie begonnenen hatte. Alles passierte zu schnell. Manchmal ist es einfach so im Leben. Wenn man das Leben genießen will, muss man den Tod fürchten. Montags ist das Leben fürchterlich. Allein der Name erinnert mich an Strenge, an Pünktlichkeit, an Struktur, an Enge. Am Montag sah ich sie. Am Montag traf sie das Ende.

Rauchig wie ihr Mund nach der letzten Montags-Zigarette?

Wir stiegen beide aus der S-Bahn aus und verließen den Bahnhof, dann gingen wir eine Straße entlang. Sie telefonierte mit jemandem und ihr Lachen machte mich aufmerksam. Auf ihrem T-Shirt stand „Nächte in Teheran“ mit persischen Buchstaben. Ich fragte mich, wie die Nächte in Teheran waren. Laut? Dunkel? Oder rauchig wie ihr Mund nach der letzten Montags-Zigarette? Sie rauchte sie mit Genuss und einer Art Selbstsicherheit, die ich in ihren Augen ablesen konnte, als wenn sie mit dem kleinen Feuer am Zigarettenstummel die ganze Welt verbrennen könnte. Dann schmiss sie den Stummel weg, ging in die Ausländerbehörde hinein, zog sich eine Nummer und setzte sich hin – genau wie ich. Sie telefonierte immer noch:

„Was mache ich in seinem Leben?“

Sie schaute ihre künstlichen Nägel an.

„Ach, sein Leben, so langweilig! Ich würde lieber den Weißen daten.“

Ihr Ton war mir zu bekannt. Und ihr Akzent, ich meine ihren iranischen Akzent, verstärkte diesen bekannten Ton.

„Solche Männer sollte man in den Mülleimer werfen!“

Ich sah im großen Bildschirm vor mir meine Nummer gerufen. Dann ging ich zum Beamten, der mich zu einem anderen Raum schickte. Ich sah sie kurz, dann betrat ich den Flur und ich weiß, es ist sehr schwer zu glauben, aber ich fühlte die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter. Sie lief neben mir im Flur zu diesem Raum. Ich war wieder klein. Sie sagte:

„Mein Süßer, du wirst wieder zur Schule kommen. Bleib hier stehen. Mama bekommt das schon hin. Und wenn du mich verteidigen sollst, rufe ich dich.“

Ich fühlte die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter

Sie öffnete die Tür und ging hinein.

„Hallo Frau Rahim! Ich freue mich, Sie wiederzusehen.“

„Guten Tag, Herr Jaladi! Ich hoffe, Sie freuen sich auch auf meinen Sohn.“

„Auf gute Schüler freut man sich.“

„Herr Jaladi, ich bin heute wieder mit einer Bitte hierhergekommen.“

„Ah sagen Sie was Neues, Frau Rahim! Sie wissen ja, als Schulleiter darf ich Ihren Sohn hier auf dieser Schule gar nicht beschulen. Vor allem unter Ihren Umständen.“

„Herr Jaladi, der Chef von meinem Mann wird ihm die Gehälter von den letzten drei Monaten am Ende dieses Monats bezahlen. Dann kann ich Ihnen gerne die restlichen Schulgebühren abbezahlen. Nur lassen Sie ihn bitte wieder in die Schule kommen!“

„Der Chef Ihres Mannes hat das nicht zum ersten Mal behauptet.“

„Nein, diesmal ist es anders. Er wird uns bald einen Scheck geben. Und, Herr Jaladi, Sie wissen ja, jeden Tag ist alles teurer als gestern.“

„Ja, da gebe ich Ihnen recht. Vielleicht sollte man sich von diesem Land verpissen, wenn man sich das Leben hier nicht leisten kann!“

Falls es mich je wirklich gegeben hätte…

Plötzlich wurde die Tür geöffnet.

„Herr Rahim?“

„Ich bin es.“

„Warum kommen Sie nicht rein?“

„Es tut mir leid. Ich war mit Gedanken woanders.“

Ich ging in den Raum hinein, legte meine Unterlagen auf den Tisch und setzte mich.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin wegen der Aufenthaltsverlängerung gekommen. Das ist der Bescheid von Gericht. Wie Sie bereits wissen, habe ich einen Anspruch auf einen Reisepass.“

„Ja, wir wissen Bescheid. Haben Sie Ihren iranischen Ausweis mit?“

„Nein.“

„Dann können wir Ihren Aufenthalt wieder auf sechs Monate verlängern, bis Sie uns Ihren iranischen Ausweis mitbringen. Das haben wir Ihnen auch in dem letzten Schreiben mitgeteilt. Was haben Sie denn in den letzten Monaten gemacht?“

„Wie oft muss ich das hier erklären? Es gibt keinen iranischen Ausweis.“

„Beim Gericht haben Sie gesagt, Sie kommen aus dem Iran.“

„Ja, ich bin dort geboren, aber meine Eltern gehören dem afghanischen Staat an.“

Ich sagte nichts

„Dann bringen Sie Ihren afghanischen Ausweis!“

„Mir wird kein afghanischer Ausweis gegeben. Das habe ich alles in den letzten Monaten versucht. Sowohl in der iranischen als auch in der afghanischen Botschaft.“

„Herr Rahim, Sie müssen einen Weg finden, mit der Botschaft zu verhandeln.“

Ich sagte nichts.

„Dann kann ich Ihnen heute nur den sechsmonatigen Aufenthalt gewähren.“

Ich nahm das neu gestempelte Papier und verließ den Raum. Im Flur sah ich die Iranerin aus einem anderen Raum hinauskommen. Wir nahmen denselben Weg zurück zum Bahnhof. Ich blieb stehen und wartete auf die Bahn. Sie ging mit ihrem Handy in der Hand an mir vorbei und ich dachte, sie wollte in den letzten Waggon einsteigen. Als sie sich von mir entfernt hatte, fing ich an, in ihre Richtung zu gehen. Meine Schritte waren langsam, bis ich aus der Entfernung im Tunnel das Licht sah. Dann lief ich schneller.

Ich war fast hinter ihr und die Bahn fuhr vom Tunnel hinaus. Dann schubste ich sie vor die Bahn. Ihr Körper verschwand auf den Schienen unter dem Zug. Ein Kind schrie. Die Bahn hielt. Einige liefen schnell zum Ausgang und einige blieben suchend nach ihrem Körper. Ich blieb auch, schaute zu, wie alle ignorierten, dass das existierende Ich wie eine verschwendete Zeit, die niemals existiert hat, in nichts vergeht. Würde man jemals herausfinden, dass ich es war? Ich meine, falls es mich je wirklich gegeben hätte?

Diese Geschichte wird im Schreibtandem  Projekt mit Natalia Grote geschrieben

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Sorour-Keramat
Sorour war 16 als sie in Deutschland ankam. Die ersten zwei Jahre in Deutschland wohnte sie in mehreren Flüchtlingsunterkünften. Dort beobachtete sie das Unglück anderer Flüchtlinge, die aus verschiedenen Ecken dieser Welt in Deutschland Schutz suchten. Dass die anderen Menschen genau wie sie unter Heimatlosigkeit leiden und jeden Tag ein Stück von ihrer Identität verlieren, versetzte sie in tiefe Melancholie. Sie sah, wie schamlos Deutschland und andere europäischen Länder die Asylsuchenden abschieben und durch Europa treiben. Alle Herausforderungen, die die Geflüchteten in Deutschland und auf der Flucht haben, tragen dazu bei, dass sie heute Literatur als eine Form des Ausdrucks nutzt, um über das ganze Elend zu berichten.
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