Hanâ, Nurâ Sabah und Maja sind die vier weiblichen Figuren in dem gesellschaftspolitischen Roman „Fünfzig Gramm Paradies“ mit der Hintergrundkulisse des libanesischen Bürgerkriegs und den archaischen Überlieferungen von Ehre und Rache. Die Syrerinnen Hanâ und Nurâ, die kurdische Sabah aus der Türkei und Maja aus dem Libanon: vier starke, konsequente Frauen.
Der Roman mäandert zwischen den Biographien dieser vier Frauen mal im Erzählstil, mal in Tagebuchtexten und Briefen. Es mischen sich Länder, Kulturen und Schicksale: kollektive und individuelle. Und auch männliche Protagonisten kommen vor: Sijâd,(Majas verstorbener Mann), Schauki (Hanâs Liebhaber), Ahmed I und Ahmed II (Kurzzeit-Liebhaber und verschollenener Ehemann von Sabah und Kemal, Nurâs Geliebter).
Ein geschichtsträchtiger Fund
Die tragende Rolle aber spielt ein alter Lederkoffer. Verschüttet unter Ruinen, gefunden von Maja, die mit geschichtsträchtigem Spürsinn seinem Inhalt nachforscht, ihm Leben gibt. Denn dieser alte Koffer enthält die Geschichte von Hanâ, die Selbstmord beging und das Tagebuch ihrer Schwester Nurâ, die deren Geschichte veröffentlicht und dadurch selbst zum Opfer wird.
Und dann gibt es die Briefe von Kemal, einem türkischen Journalisten und Aktivisten an Nurâ: die beiden verbindet eine innige Liebesbeziehung über alle Grenzen hinweg. Grenzen der Ethnie, der Sprache und Kultur und der Geographie.
Vor der Kulisse eines vergangenen Bürgerkriegs
Der libanesische Bürgerkrieg ist unterschwellig immer präsent, auch wenn er zur Zeit nicht aktiv ist. Zu viele Akteure mit unterschiedlichen Interessen waren und sind beteiligt. Sie alle wollen Macht, Geld und Einfluss verteidigen oder erlangen: Die Palestine Liberation Organization PLO, die maronitische Phalange, die Israelis und Syrer, die Milizen der Hisbollah und der Drusen.
Das alles sind Nachwehen der Aufteilung des osmanischen Reiches durch die westlichen Mächte, die den „Kranken Mann am Bosporus“ besiegt hatten. So zieht sich Geschichte von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft. Um so bewundernswerter wie die Libanese*innen mit ihren Traumata, trotz immer neuer Krisen, trotz der vielen Grausamkeiten auch ihre Menschlichkeit bewahrt haben.
Der Koffer ist nicht nur ein alter abgegriffener verstaubter Lederkoffer. Er ist ein Symbol. Denn er ist ein Bewahrungsort und Träger von Erinnerungen. Er ist kein touristischer Koffer, er enthält keine Souvenirs und doch ist er ein Reise-Relikt. Die biographischen Lebensreisen fanden in ihm ihren letzten Platz. Ein Relikt der Lebensreisen von Hanâ, Nurâ und Kemal.
Aus diesem emotionalen Puzzle bildet Maja ein finales Bild, in dem auch sie ihren Platz finden wird. Sabah war Nurâs Vertrauensperson. Sie übermittelt Details, die der Kofferinhalt vorenthält: Wo ist beispielsweise das gemeinsame Kind von Nurâ und Kemal geblieben? Denn es wurde nicht, wie vermeintlich angenommen, zusammen mit der Mutter Opfer eines Anschlags, sondern von Sabah an eine dubiose Frau weitergegeben. Hier wird auch das Thema Menschenhandel angesprochen, das eine Begleiterscheinung vieler Kriege ist.
„Sei wer du bist, wo du auch bist.“
50 Gramm Paradies ist anfangs eine verwirrende Lektüre, die sich aber peu a peu zu einem großen Ganzen ordnet. Sie ist angereichert mit levantinische Essenz. Der Roman spielt nicht in der Peripherie im Nirgendwo, sondern im Zentrum einer ganz eigenen Welt: der Welt des Mittelmeer-Raumes. „Orte, an denen du wohnst, sind Spiegel für dich. Wohin du auch gehen magst, mach den Ort zu deinem Ort und bewahre dir das Leuchten deiner Seele.“ Und als Quintessenz ein Zitat von Mahmud Darwisch: „Sei wer du bist, wo du auch bist.“ Die Leser*innen werden hineingezogen in Geschichten von Liebe und Ängsten, von Vertrauen und auch von Feindschaft. Themen, die überall auf der Welt präsent sind, mit landes- und sittenspezifischen Variationen, aber immer Essenz des Menschseins sind.