Ich bin gerne in Antikläden. Alte Küchentresen aus dem 19. Jahrhundert, ein Retrosessel aus den 70er-Jahren oder alte schwarz-weiß Fotos von unbekannten Menschen berühren mich und lösen in mir Freude und Frieden aus. Diese Gefühle sind für mich kostbar, weil ich mich innerlich oft unsicher und gespalten fühle. Meine Spaltung entsteht durch den Verlust meiner Heimat.
Heimat als Teil vom Selbst
Verlust der Heimat bedeutet für mich, Verlust meiner Fähigkeit, so zu sein, wie ich bin. So zu sein wie ich bin, ist eine sehr komplexe Vorstellung. Hier meine ich, dass ich in den letzten 15 Jahren in Deutschland nicht so gelebt habe, wie es meinem inneren biologischen Rhythmus entspricht. Ich habe viel funktioniert und wichtige Bedürfnisse meiner Seele ignoriert.
Vom ersten Tag an in Deutschland, habe ich alles, was für diese Gesellschaft wichtig war, verinnerlicht, um hier meinen Platz zu finden. Ich bin sehr stolz auf mich, weil ich es gut hingekriegt habe. Ich habe hier studiert, eine Familie gegründet und einen für mich guten Beruf ausgeübt.
Jedoch hatte es seinen Preis. Ich fühle mich jetzt oft unruhig und mit dem Leben schlecht verbunden. Ich suche immer wieder mein Zuhause und finde es unterwegs. In Antikläden, in Kirchen und auf den Straßen von Hamburg, wo viele Altbauhäuser sind. All das öffnet mir für kostbare Augenblicke eine Tür in die Vergangenheit von Deutschland und sogar von meiner Heimat Kirgisistan…
Einklang mit der Umwelt und der Schangyrak
Meine Ahnen praktizierten bis ins 18. Jahrhundert Tengrismus. In der Sprache Orchon bedeutet das Wort Tingri Himmel. Das höchste Ziel der Tengri-Anhänger war es, in Einklang mit der Umwelt zu leben. Sie glaubten daran, dass Tiere, die Erde und Menschen, alle Geschöpfe übergeordneter Kräfte sind, die im Himmel lebten. Deshalb war es sehr wichtig, andere Wesen so zu behandeln, wie man selbst von anderen behandelt werden möchte.
Auf der kirgisischen Fahne ist das Symbol eines „Schangyrak“ zu sehen. Es sieht wie ein Kreuz in einer Kugel aus. Das ist ein Symbol für einen Baum. Die Äste des Baumes stehen in Verbindung mit dem Himmel, der mittlere Teil des Baumes steht für dessen Verbindung mit allem Irdischem und die Wurzeln des Baumes unter der Erde symbolisieren die Verbindung mit einer Unterwelt. Deshalb waren Bäume eine wichtige Erscheinung. Schamanische Kirgisen haben bestimmte Orte mit Bäumen als heilig bezeichnet.
Bei besonderen Anlässen wie dem Frühlingsfest Nooruz oder Naturkatastrophen haben sie sich an solchen Orten sich mit der Höheren Kraft verbunden. Nach der Tradition sollten sie an Ästen von so einem Baum heilige Teile von Baumwollstoffen binden. Sie haben dort auch Tiere als Opfer für Gott gebracht, sie geschlachtet und gebetet. Sie baten den Gott um Lösungen für ihrer Problemen, um Genesung oder Frieden.
Das Frühlingsfest Nooruz am 21. März ist bis heute in Kirgisistan ein wichtiger Anlass. Auch in Deutschland feiern wir es jedes Jahr in den kirgisischen Communities. Früher dauerte es 3 Tage. Für das Fest wurde üppig gekocht, viel gegessen, gespielt und musiziert. Es war an diesen Tagen wichtig, Bäume an heiligen Orten zu besuchen und weiße, gelbe und blaue Stoffe an die Äste zu binden. Andere Farben waren nicht erlaubt. Weiß stand für den Gott, Gelb für die Sonne und Blau für das Wasser.
Leben nach dem Tod
Kirgisische Schamanen glaubten ebenso daran, dass ein Mensch nach dem Tod als Geist weiterlebt. Sie glaubten daran, dass Geister von gestorbenen Menschen unter der Erde leben. Deshalb war es wichtig, dass ein würdiger Abschied vom Verstorbenen stattfindet, damit sein Geist sie aus der anderen Welt beschützen oder umgekehrt nicht belästigen kann.
Die Trauerfeier war für die hinterbliebenen Menschen ebenso wichtig, damit die Familie der verstorbenen Person gut trauern und den verlorenen Menschen leichter loslassen konnten. Die Beerdigungsfeier war eine sehr große Versammlung von allen Bekannten, Freund*innen und Verwandten. Sie dauerte im Schnitt 3 Tage. Wichtige Menschen für die verstorbene Person, die von weiter her kommen sollten, hatten somit Zeit, um sich zu verabschieden.
Erst am dritten Tag wurden der oder die Tote in die Erde begleitet. Ein starker Ausdruck von Emotionen wie Trauer und Wut waren willkommen, Männer und Frauen durften laut weinen und schreien. Darüber hinaus wurde viel für den Geist der oder des Gestorbenen gebetet.
Preis der Entscheidung
Ich bin ziemlich stolz darauf, dass ich so interessante Ahnen habe. Ich fühle eine Verbindung mit ihnen, wenn ich historische Filme sehe oder Texte über sie lese.
Manchmal zünde ich zu Hause „Archa“ an und reinige die Luft in den Räumen. Archa ist eine Tannenart, die in den Bergen in Kirgisistan wächst. Ein Geruch von Archa verbindet mich sofort mit der Kindheit, mit meiner Mutter, mit meiner Oma und mit allem, was für mich früher „Zuhause“ war. Dann weiß ich sofort, wer ich bin, und das erdet mich. Ich erinnere mich an meine Familie und Verwandten, die ich vor 15 Jahren zurückgelassen habe.
Das Gruppenleben dort hat mir ständig ein Gefühl von Verbundenheit verliehen. Ein Nachteil eines Gruppenlebens ist jedoch, dass ein anderes, existenziell wichtiges Bedürfnis, autonom zu sein, stark unterdrückt wird. Da ich mich immer sehr nach einem autonomen Leben gesehnt habe, bin ich nicht dageblieben. Diese Entscheidung hat seinen Preis.
Vergangenheit und Endlosigkeit
Jedoch bin ich im Großen und Ganzen mit meinem Leben in Deutschland zufrieden. Besonders seitdem ich meine kirgisische kulturelle Identität wieder stärker ausdrücke, lebe ich authentischer und glücklicher als vorher. Ich habe Frieden mit meinem Heimatland und der Vergangenheit abgeschlossen. Und ich spüre eine gewisse Kraft in mir, die durch Verbundenheit mit meinen Ahnen kommt. Diese Kraft hilft mir, immer wieder Fremdes in Vertrautes zu verwandeln.
Ich bin sehr viel um die Alster und durch alle möglichen Ecken Hamburgs ohne Ziel spazieren gegangen. Die besondere Atmosphäre von Altbauhäusern, Kirchen und Wasser weckten in mir meine Vergangenheit, Vergangenheit meiner Eltern und Vergangenheit ihrer Eltern und so weiter… Das Gefühl von Endlosigkeit schafft viel Raum fürs Ankommen in Deutschland.
Ein Gedankenspaziergang
Die Innenstadt von Hamburg sieht für mich besonders spannend aus. Lass uns doch eine Gedankenreise vornehmen:
Wir gehen zu Fuß vom Steindamm durch den Hauptbahnhof, danach gehen wir weiter die Mönckebergstraße entlang bis zum Rathaus und von da aus zur Alster. Vor ca. 100 Jahren war der Steindamm ein besonderer Ort. Laut eines Artikels vom NDR war „im Jahr 1894 der Steindamm ein Prachtvollboulevard mit schicken Geschäften und Bürgerhäusern mit verzierten Fassaden. Das Publikum in der Hamburger Vorstadt St. Georg war elegant und ging gerne aus“.
Jetzt im Jahr 2023 ist der Steindamm ein orientalischer Ort und Halt für viele Menschen aus verschiedenen Ländern. Ich fühle mich dort wohl. Für mich ist da viel Leben, weil es sich chaotisch anfühlt. Das erinnert mich an Bazars in Bischkek, wo es auch laut, vielfältig, unkontrolliert und einfach war. Die Atmosphäre am Neuen Wall am Jungfernstieg fühlt sich für mich hingegen anders an. Da ist es eher chic und kontrolliert.
Als eine moderne Frau mit schamanischen Ahnen empfinde ich diese Stadt als Mutter-Hamburg. Hamburg trägt Vergangenheit und Gegenwart in sich. Es vereinbart in sich Diversität der unterschiedlichsten Kulturen. Ich denke, Mutter-Hamburg ist es egal, ob Menschen ins Louis Vuitton am Neuen Wall oder in einen Textilladen am Steindamm einkaufen gehen. Sie liebt alle Menschen, die in ihr leben. Auch wenn Hamburg für viele Migrant*innen oft kalt, chaotisch, fremd und grau erscheint, lohnt es sich, für ihre warme, alte und weise Seiten offen zu sein. Wenn ich will, kann ich überall meine Heimat finden.