Jadd Hilal: Flügel in der Ferne

Der Roman "Flügel in der Ferne"erzählt in alternierenden Puzzleteilen das Leben von vier Frauen: von Naïma und ihrer Tochter Ema, ihrer Enkelin Dara und ihrer Ur-Enkelin Lila. Es geht um Frauenschicksale eines zerrissenen Lebens in einem zerrissenen Land.

Rezension: Flügel in der Ferne

Autor Jadd Hilal ist selbst libanesisch-palästinensischer Abstammung, also prädestiniert dazu, diese generationsübergreifenden Familienbande plastisch zu schildern. Doch die Zuordnung der mosaikartig angeordneten Textfragmente in „Flügel in der Ferne“ – mal ausführlicher, mal kurz – finde ich etwas verwirrend. Sie werfen mich immer wieder zurück. Who is who? Und wer war wann wo?

Im Hintergrund spielen zwei weltgeschichtliche Akteure mit und sind letztendlich ausschlaggebend für die zerrissenen Biographien der vier Frauen: Die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser aus ihrem angestammten Gebiet durch die Israelis, und der libanesische Bürgerkrieg. Auch dieser ist indirekt durch die Nakba beeinflusst, denn die Vertreibung der PLO aus dem Libanon, die wiederum zuvor nach dem Schwarzen September aus Jordanien vertrieben worden war, war der Auslöser. Und das Land ist bis heute – 2022 – nicht zur Ruhe gekommen. Immer wieder flackern Kleinkriege und Kämpfe in diesem mediterranen Land auf, in dem Christen maronitischer Prägung und sunnitische und schiitische Muslime um die Macht ringen und kämpfen.

Zerrissene Seelen, die vertrieben werden und die flüchten

Die Frauenschicksale sind eng mit den Charakteren ihrer Männer verbunden, die zwar nur in Nebenrollen auftreten, die alle in irgendeiner Form zu Gewalt neigen und Anpassung und Unterwerfung erzwingen und somit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Realität sind. Zerrissene Seelen, die vertrieben werden und die flüchten. In andere Länder, aber auch in Alb- und Tagträume.

Deutlich werden die kriegerischen Rivalitäten der diversen Milizen und Militärs geschildert, die Instabilität eines Landes „mittendrin“. Aber auch die Privilegien gewisser Schichten, zu denen die UNO-Mitarbeiter und die anderer internationaler Organisationen zählen. Sie leben in „Gated Communities“, mit Privatchauffeur, Spesen für dies und jenes und früher Pensionierung. Weit entfernt von der Realität der Landesbewohner, ob Einheimische oder „Zugewanderte“. Die Beamten werden evakuiert, der Rest, die gewöhnlichen Libanesen, müssen bleiben. Warum? Sie sind keine Auserwählten, sie sind nur Statisten im „Big Game“. Und es wird offen dafür plädiert, die UNO abzuschaffen. Wozu einen Sicherheitsrat, in dem 5 Staaten (von denen keiner ein sog. Entwicklungsland ist) über 187 Staaten entscheiden.

Faszinierend für die Leser*innen ist die Liebe zum Land, zum Libanon, zur „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. So ist das Hin und Her z.B. für Dara ein Tauziehen zwischen libanesischer Lust am Leben und dem europäischen Verantwortungsbewusstsein und der geregelten Ordnung. In Ländern wie dem Libanon herrschen Unordnung und Großzügigkeit, man besitzt wenig und gibt gerne.

Als ob ein Ozean menschlichen Leids zu einer Stimme wird

Bezeichnend ist die Szene auf dem Schiff, das Evakuierte nach Zypern bringen soll. Eine Sängerin stimmte das Lied „Al Busta“ der über die Grenzen Libanons hinaus berühmten und verehrten Fairuz an, die Passagiere jubeln, weinen, stampfen, applaudieren, als ob ein Ozean menschlichen Leids zu einer Stimme wird.

Das Buch endet mit Lilas Traum vom „durch die Lüfte fliegen“ wie die Vögel. „Als ich die Augen wieder öffnete, war ich wie ein Vogel, hatte Flügel, die die anderen nicht besaßen“.

Die Träume, die Sehnsucht, Heimat, aber auch die frauenfamiliäre Verbundenheit – das ist die Quintessenz dieses Romans, der durch die vier Frauen das Schicksal der Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten verdeutlicht. Und gerade in der heutigen Zeit ist Heimat ein Zustand, nach dem wir uns sehnen, vielleicht unterschwellig, weil wir ja alle mobile Weltbürger*innen sein wollen. Und ich schließe mit Worten des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish:

„Ich lernte alle Wörter und habe sie alle zerteilt, um ein einziges Wort zu schaffen: Heimat. „

So können wir als Leser*innen alle Wörter dieses kleinen Romans zerteilen und jede*r kann etwas ganz Persönliches finden. Mag es die Wut auf Kriege sein. Mag es Heimat sein. Mag es der Ikarus-Traum sein. Mag es die Lebenslust und die Lebensfreude sein.

 

Hier kannst du Almuts letzte Rezension lesen.

„Mein Onkel, den der Wind mitnahm“- eine wundersame Reise

 

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