24 Geflüchtetenhelfer*innen stehen auf der griechischen Insel Lesbos vor Gericht. Ihnen drohen 20 Jahre Haft. Angeklagt sind sie, weil ihnen unter anderem Spionage, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Urkundenfälschung und die illegale Nutzung von Funkfrequenzen vorgeworfen wird. Unter ihnen ist die syrische Schwimmerin Sara Mardini. Ihre Fluchtgeschichte wurde von Netflix in „Die Schwimmerinnen“ verfilmt.
Die Geschichte von zwei Schwestern
Am ersten Weihnachtsfeiertag saßen meine Schwester, mein Vater und ich auf der Couch und berieten darüber, welchen Film wir uns anschauen sollen. Die Wahl fiel auf die Netflix-Produktion „Die Schwimmerinnen“, welche im September 2022 beim Toronto International Film Festival ihre Premiere feierte. In dem Film wird die Geschichte von den Schwestern Sara und Yusra Mardini erzählt.
Beide Schwestern sind Wettkamp-Schwimmerinnen in Syrien und fliehen nach Ausbruch des Krieges nach Deutschland. In einem überfüllten Schlauchboot fahren sie mit Geflüchteten anderer Länder übers Mittelmeer. Da das Boot zu kentern droht, springen Sara und Yusra Mardini ins Wasser, ziehen das Boot hinter sich her und schwimmen an Land, auf Lesbos. Über die Balkanroute gelangen sie nach Berlin, wo Yusra Mardini wieder anfängt zu schwimmen und schließlich 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro im Refugee Team teilnimmt.
Hier endet der Film. Eine Erfolgsgeschichte, wie man sie eben gerne schaut. Ergreifend, dramatisch, aber am Ende eben doch das Happy End. Doch die wahre Geschichte beginnt erst danach. Im Abspann erfährt man, dass Sara Mardini nach Lesbos zurückkehrt, um ankommenden Geflüchteten zu helfen, sie zu versorgen und aus dem Meer zu retten. Und dass sie 2018 deswegen von den griechischen Behörden aufgegriffen wird und 100 Tage in Haft verbringen muss.
Mangel an Sensibilität und psychologischer Betreuung
Im ersten Moment bewegt mich der Film. Er hat starke Bilder und zeigt, welche unvorstellbaren Gefahren Fliehende auf sich nehmen müssen, um nach Europa zu gelangen. Auch die Dynamik zwischen den Schwestern und ihrer Familie berührt mich. Doch je mehr ich nach dem Schauen darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, welches Narrativ hier rübergebracht werden soll. Denn ab der Ankunft in Berlin scheint alles so einfach: Yusra wird in einem Sportverein aufgenommen und kann dort trainieren, zieht schnell aus der Erstaufnahmestelle aus und wird sogar zur gefeierten Olympionikin. Andere Geflüchtete, die mit auf dem Boot waren, und wie es für sie weitergeht, kommen nur am Rande oder gar nicht mehr vor.
Schauspielerin Manal Issa, die Sara Mardini spielt, äußerte sich nach der Veröffentlichung sehr kritisch über die Produktion. Sie kritisiert, dass keine syrischen Schauspieler*innen eingesetzt wurden. Außerdem habe es wenig Sensibilität und Wissen über die arabische Sprache, Kultur und die politischen Dimensionen in Syrien gegeben. Stattdessen habe man sich an klassischen orientalistischen Bildern bedient. Im Online-Magazin Middle East Eye berichtet sie davon, dass sie beim Dreh auf dem Mittelmeer echte Boote mit geflüchteten Menschen gesehen hätten. Andere Schauspieler*innen mit eigener Fluchtgeschichte seien retraumatisiert worden. Psychologische Betreuung habe es keine gegeben.
Die Wirklichkeit ist hässlich
Diese Schilderungen hinterlassen einen bitteren Beigeschmack. Und sie lassen mich fragen, ob Netflix diese Geschichte auch verfilmt hätte, wenn die beiden Schwestern Kopftuch tragen würden oder es nicht zu Olympia geschafft hätten.
Wie europäische Staaten mit Geflüchteten und Seenotretter*innen umgehen, möchte sich niemand an Weihnachten mit der Familie anschauen. Denn diese Story ist hässlich. Es ist einfacher, die Augen vor den wahren Geschichten von Geflüchteten zu verschließen. Wie sie gewaltsam an den Grenzen zurückgedrängt werden, wie willentlich in Kauf genommen wird, dass sie im Mittelmeer ertrinken und wie diejenigen kriminalisiert werden, die ihnen helfen wollen.
Kriminalisierung von Flüchtlingssolidarität in Europa
Gerade deswegen ist es wichtig, dass dieser Prozess Aufmerksamkeit erhält. Seit fünf Jahren warten die Angeklagten auf ihn, er wurde schon etliche Male verschoben. Diese Woche hat er nun endlich begonnen. Sara Mardini kann an den Verhandlungen nicht teilnehmen, da sie nicht nach Griechenland einreisen darf. Die 27-Jährige gilt als Bedrohung der nationalen Sicherheit.
Menschenrechtsorganisationen und sogar das Europaparlament kritisieren den Umgang mit den Aktivist*innen. Ein Untersuchungsbericht aus dem Jahr 2021 bezeichnet den Prozess als „den größten Fall der Kriminalisierung von Flüchtlingssolidarität in Europa“.
“Die Schwimmerinnen” hat versäumt, ein realistisches Bild von der Flucht nach Europa zu porträtieren. Statt zu zeigen, wie widersprüchlich der Umgang mit den beiden Schwestern ist, wurde sich eine Erfolgsgeschichte rausgepickt, die die Erfahrungen von Menschen mit Fluchtgeschichte nicht repräsentiert. Zuschauer*innen vor dem Fernseher oder der Kino-Leinwand können danach wohlig in ihren Alltag zurückkehren, während vor den Toren Europas jeden Tag Menschen sterben und Aktivist*innen um ihre Freiheit bangen müssen. Das ist makaber.