Verlorene Sicherheit

Wie kann man sich je wieder sicher fühlen, wenn im eigenen Land Krieg ausbricht? zu.flucht Autorin Shereen schreibt in ihrem Essay über Sicherheit und wie sie lernte, mit der Angst zu leben.

Fotograf*in: Chiara F.

Die Hitze macht sich bemerkbar, die Temperaturen steigen, Schweißperlen tropfen, die Mundpartie trocknet aus, als würde sie sich zusammenziehen. Ein starkes Durstgefühl. Doch egal, ob man den Wasserhahn öffnet, den Kühlschrank durchstöbert, den Tisch absucht oder das ganze Haus durchkämmt, ein Tropfen Wasser ist nirgends zu finden. Es tut weh.

Ähnlich hat es sich angefühlt, als mir plötzlich die Sicherheit entzogen wurde. Vor meiner Tür herrschte plötzlich Krieg, und von einem Tag auf den anderen wurde ich von allen Seiten bedroht. Das Besondere an Sicherheit ist jedoch, dass sie – anders als Wasser – nicht greifbar, nicht sichtbar ist, man aber spürt, wenn man sie verliert. Wie Wasser ist sie ein existenzielles Bedürfnis.

Wie die Angst zu meiner Begleiterin wurde

Als in Syrien der Krieg ausbrach und ich langsam die Veränderungen spürte, wurde die Angst meine ständige Begleiterin. Ich hatte andauernd das Gefühl, mich verteidigen zu müssen, meine Sinne wurden geschärft, und so wurde jeder Schritt, den ich auf die Straße wagte, zu einem Kampf. Die Nächte wurden dunkler, die Straßen stiller. Die normalen Alltagsgespräche, die ich auf der Straße immer gehört hatte, verklangen. Schließlich übertönten Schüsse, Bomben und Kugeln jede andere Stimme.

Das alles passierte, als ich noch 11 Jahre alt war, vier Jahre erlebte ich diesen Krieg. Doch wie an alles andere gewöhnte ich mich auch daran und so trat eine neue Normalität in mein Leben ein. Alles veränderte sich und wurde knapper. Von Jahr zu Jahr sah ich, wie meine Klassenkameraden weniger wurden, die Läden schlossen und fremde Formen, Farben und Gerüche annahmen. Auch innerlich veränderten sich meine Gefühle, um mich meiner Umgebung anzupassen, als eine Art Verteidigungsmethode.

Ich saß vor dem Fernseher und aß Rührei mit Tomaten, als meine Mutter plötzlich sagte: „Wir sollten hier weg!“ Dieser Satz, auch wenn er zuerst erschreckend klang, weckte etwas in mir auf. Den Wunsch, an den Ort zurückzukehren, an dem ich einst war. Ich floh mit der Absicht, an einem neuen Ort meine friedliche und schöne Vergangenheit wiederzufinden. Dafür war ich in diesem Moment bereit, alles aufzugeben, um einen Neuanfang zu wagen.

 

Wie sicher sind sichere Orte?

Wir kamen in die Türkei und lebten dort zwei Jahre. Anfangs war die Stadt für mich ungewohnt und fremd. Aber es war schön, endlich an einem sicheren Ort zu sein. Ich sollte deshalb weniger besorgt sein. Doch ständig hatte ich das Gefühl, dass etwas passieren würde. Meine Begleiterin hatte mich auch hier nicht verlassen. Ich spürte sie in verschiedenen Situationen.

Einmal lief ich die Straße entlang, das war einige Tage vor Silvester. Ein Kind, das ein paar Meter von mir entfernt war, zündete eine kleine Rakete. Ich sah die Rakete nicht, hörte nur ihren Knall und erschrak, duckte mich und legte meine Hand über meinen Kopf. Einige Sekunden später merkte ich, dass nichts passiert war. Ich spürte, wie alle mich anstarrten. Die Situation war mir unangenehm, aber ich hatte etwas gelernt. Mein Körper wird es nie vergessen. Egal, wo ich mich befinde, die vier Jahre Krieg werden noch lange eine Narbe hinterlassen.

Ich akzeptierte diese Narbe vorerst nicht und dachte Deutschland werde sie komplett heilen, denn dort gebe es die absolute Sicherheit. Im Jahr 2016 begann ich zur Schule zu gehen, lernte die deutsche Sprache und schloss auch mein Abitur ab. Danach begann ich mit dem Studium und erhielt sogar ein Stipendium. Hier spürte ich endlich wieder diese Sicherheit, allerdings nahm sie hier eine andere Form an. Es war die erste Phase in meinem Leben, wo ich nicht mehr gegen so viel ankämpfen musste – ich konnte einfach nur sein.

Das Gefühl von Sicherheit (ver)lernen

Doch überraschenderweise wusste ich nicht mehr, wie das geht. Als ich wieder ans Wasser kam, hatte ich bereits vergessen, wie man trinkt. Ich war so darauf vorbereitet, mich zu schützen und Verteidigungstechniken zu erlernen, dass ich nicht mehr ruhig leben konnte. Irgendwann habe ich gelernt, mit meiner Begleiterin zu leben. Ich möchte nicht mehr, dass sie verschwindet, denn sie zeigt mir meine Geschichte und erinnert mich daran. Wenn man lange ohne Wasser oder mit knappem Wasser gelebt hat, lernt man es sehr zu schätzen, und so ähnlich ist es auch mit der Sicherheit. Ich kann die Sicherheit hier schätzen, auch wenn ich sie nicht komplett fühlen kann. Aber ich lerne es.

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Shereen studiert Ethnologie an der Universität Hamburg. Ursprünglich kommt sie aus Syrien und ist 2016 nach Deutschland gefohen. Ihre Hauptinteressen liegen in den Bereichen Literatur, Film und gesellschaftliche Themen. Sie schreibt leidenschaftlich über alles, was ihre Begeisterung weckt und ihre Neugierde anspricht. Dabei bleibt sie stets aufmerksam, sei es in der Bahn, auf der Straße oder wo auch immer sie sich befindet, denn Geschichten finden sich überall in ihrer Umgebung.

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Kategorie & Format
Shereen studiert Ethnologie an der Universität Hamburg. Ursprünglich kommt sie aus Syrien und ist 2016 nach Deutschland gefohen. Ihre Hauptinteressen liegen in den Bereichen Literatur, Film und gesellschaftliche Themen. Sie schreibt leidenschaftlich über alles, was ihre Begeisterung weckt und ihre Neugierde anspricht. Dabei bleibt sie stets aufmerksam, sei es in der Bahn, auf der Straße oder wo auch immer sie sich befindet, denn Geschichten finden sich überall in ihrer Umgebung.

Eine Antwort

  1. Der Artikel hat mich sehr berührt – er war ehrlich und heilsam! Angst ist auch meine Begleiterin. Während des Lesens bin ich neugierig geworden, wie man am besten mit Ängsten umgehen kann. Könnten Sie auch darüber schreiben und vielleicht einige Tipps geben?

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