Jurte bedeutet auf kirgisisch und türkisch – Heim. Mikrokosmos. Ein Shangyrak ist ein kreuzähnliches Element in der Jurte. Aus Holz gemacht, befindet es sich an der Decke. Dort verbindet die kuppelförmige Öffnung. Der Shangyrak ist ein wichtiger Teil einer Jurte, weil durch ihn Sonnenlicht herein kommt und Rauch vom Feuer entweicht.
Die Jurte ist für mich ein Symbol für das Heim, für das Zuhause. Deshalb will ich auch diesen Artikel mit einer Beschreibung meiner persönlichen Jurte anfangen!
Heute möchte ich dich in meine private Jurte einladen und über Neuigkeiten aus meinem Leben von der letzten Zeit erzählen.
Wanduhr und Kalender in der Jurte
Wenn du reinkommst, hängen auf der rechten Seite vom roten Holzbalken der Jurte, der Wandfunktion hat, zwei Gegenstände: eine runde Wanduhr und ein Kalender. Diese Gegenstände haben mir in den letzten Jahren in Deutschland einen gewissen Halt und Orientierung gegeben.
Lineare Zeit ist ein besonderer Teil des kapitalistischen Systems in Deutschland, weil sie konkret und getaktet ist. Seitdem ich in Deutschland bin (2006), ist das auch in meinem Geist ein fester Bestandteil geworden. Ich habe mich immer an der linearen Uhrzeit orientiert und mich streng daran gehalten. Überall wollte ich pünktlich sein und in den 24 Stunden möglichst viele Aufgaben erledigen.
Wochentage waren ebenso wichtig. Jeder Wochentag hatte für mich einen Charakter. Als ich noch als Angestellte gearbeitet habe, war der Montag für mich ein freier Tag. Während viele Menschen in die Arbeit gingen, bin ich an dem Tag zum Yoga gegangen oder habe andere Dinge gemacht. Deshalb war er für mich ein Lieblingstag.
Dienstag war für mich der Anfang der Arbeitswoche, an dem ich gearbeitet habe, mich um meine Tochter gekümmert und den Haushalt erledigt habe. Es war ein gewöhnlicher Tag ohne ein bestimmtes Merkmal. Mittwoch war für mich wie ein kuscheliger Teddybär, weil er irgendwie neutral war, und er befand sich zwischen Anfang und Ende der Woche. Es war so, als ob ich mitten in einem Prozess bin. Auch wenn am Tag viel los war, war es erträglich, weil es eben Mittwoch war.
Donnerstag fühlte sich maskulin an: streng, zurückhaltend und kontrollierend. Als ob er wüsste, dass morgen Freitag kommt und dann ist alles vorbei, keiner will mehr arbeiten. Freitag habe ich hingegen als weiblich wahrgenommen: entspannt, sanft und offen. Offen für eine Feier, eine Abendveranstaltung. Und er bedeutete einen Übergang vom Arbeitstag in den freien Tag, den Samstag. Am Freitag wünschten sich viele „schönes Wochenende“. Keiner sagte etwas anderes.
Samstag ist anstrengend. Er ist wie eine weise Mutter, die jedoch von vielen emotionalen Herausforderungen ihrer Familie und Gesellschaft überfordert ist. Für mich war das ein Tag, an dem ich aufgeregt war. Es war ein Tag, an dem ich allem, was ich unter der Woche unterdrückt und nicht gelebt habe, jetzt Raum gegeben habe. Irgendwie durfte am Samstag alles sein: Einkäufe, Besuch, Spaß, Streit.
Sonntag fühlte sich für mich wie ein gelassener Vater an. Er fühlte sich ruhiger an und ich konnte dann alles, was vom Samstag übrig geblieben war, aufräumen oder weiter erledigen. Sonntagnachmittag war ich oft traurig, als ob ich dann Abschied von der Freizeit nehmen und mich innerlich auf die neue Woche vorbereiten musste. Viele wünschten sich einen „guten Start in die neue Woche“.
Diese zeitlichen Rahmen haben langsam von Jahr zu Jahr meines Aufenthaltes in Deutschland einen festen Platz in meinem Geist genommen. Irgendwann hatte ich oft das Gefühl, dass meine innere Zeitwahrnehmung geschrumpft war. So, als ob ich nun außer linearer Zeit und Wochentagen keine andere Zeit im Leben hätte. Dieser künstliche Rhythmus hatte meinen biologischen Rhythmus unterdrückt, sodass ich immer das Gefühl hatte, ich hätte nie genug Zeit für irgendetwas. Ich fühlte mich oft in Eile.
So ein Leben führte automatisch zu innerer Unruhe und raubte meine Lebenskraft. Letztes Jahr wusste ich schon, dass diese künstlichen Rahmen mich irgendwie innerlich auch künstlich gemacht haben. Ich war davon richtig genervt und ich habe meine feste Arbeitsstelle gekündigt. Das war Oktober 2022. Hoppla. Auf einmal hatte ich viel Zeit, obwohl ich mich weiterhin um meine Tochter kümmern und überlegen musste, was ich beruflich demnächst machen will.
Zum Glück habe ich Unterstützung vom Staat bekommen. Finanziell musste ich mir bezüglich meiner Miete und Essen keine Sorgen machen. Aber emotional fühlte ich mich ziemlich schlecht, weil ich in der deutschen Gesellschaft auf einmal eine Nummer geworden war: Kundennummer bei der Arbeitsagentur.
„Die Illusion der Leistungsfamilie“
Ich möchte dir das nächste Bild zeigen, das auch an der Holzwand neben Uhr und Kalender aufgehängt ist. Es heißt „Illusion der Leistungsfamilie“. Das ist eine wunderschöne Abstraktion. Darstellung von Chaos. Durch meine fast ständige Leistung, seitdem ich in Deutschland bin, war ich durch diese wunderschöne Illusion der Zugehörigkeit bezaubert.
Wie ich schon oben geschrieben habe, musste ich mich im Oktober 2022 von dem Wunder trennen. Das war für mich der Anfang von dunklem Winter. Ich denke, wir sind alle auf dieser Erde, um uns von Menschen, Dingen, Vorstellungen, die wir lieben oder an die wir uns gewöhnt haben, zu trennen, damit es uns besser geht. Gewöhnlich ist es so, dass nach einem Loslassen viel Kraft und Platz für Neues entsteht, wenn man es geschafft hat, etwas Unfruchtbares loszulassen. Es ist jedoch hart, den Übergang vom Festhalten zum Loslassen und vom Loslassen bis zum Neuen zu schaffen. Ich hatte dieses Mal ein Gefühl, dass der Winter in Hamburg nie endet.
Es ist immer leichter, im Mainstream als dagegen zu schwimmen. Es ist schwer, gegen den Mainstream zu schwimmen, weil es viel Angst macht und in einem ein großer Widerstand entsteht. Nach dem Verlust meiner Arbeit hatte ich fast täglich soziale Isolationsgefühle. Ich musste feststellen, dass 70% meiner sozialen Kontakte durch meine Arbeit entstanden waren und somit hatten sie mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit erfüllt. Auf einmal hatte ich keine Kollegen und Klienten mehr, keine Gemeinschaft.
Obwohl ich immer geahnt habe, dass meine Arbeitsbeziehungen nur durch Arbeitszeiten und manchmal darüber hinaus bedingt waren. Große Zweifel, Scham und Schuldgefühle erfüllten mich. Sie waren jeden Morgen präsent und belasteten mich. Ich fühlte mich schwach und nutzlos, obwohl ich eine Tochter und ein Paar Freunde und viele Bekannte hatte und mir von Tag zu Tag neue Beschäftigungen, die ich schon lange machen wollte, aufgebaut hatte.
Ich hatte oft Gedanken, dass ich falsch bin und deshalb nicht wie alle anderen sein kann. Alle „anderen“, die zur „Leistungsfamilie“ gehörten, schienen mir glücklicher als ich zu sein. Sie gingen vor mir mit zufriedenen Gesichtern und sie konsumierten, sie gingen essen, sie planten ihre Zeit für den nächsten Urlaub, sie plauderten leicht über belanglose Dinge, sie waren irgendwie immer beschäftigt. Und was mir noch aufgefallen war: Sie waren oder wirkten immer gestresst.
„Gestresst sein“ ist ja ein Wort, das in dieser Gesellschaft bedeutet, dass man „okay“ ist, ein anderes Synonym dafür ist „akzeptiert“. Also ich bin „gestresst“ heißt, ich bin „akzeptiert“, „Ich lebe im Zeitdruck, die Zeit fehlt mir, um alle Dinge, die noch auf meinem To Do Liste stehen, zu erledigen“.
Ich fühlte mich so, als ob ich anders bin als sie. Ich gehörte nicht mehr zur Leistungsfamilie, weil ich anders war. Positiv ausgedrückt, ich habe Geld vom Staat bekommen und ich durfte nun so leben wie ich es wollte. Aber wie wollte ich denn nun ohne meine gewöhnte Zugehörigkeit zur Arbeitswelt leben? Allein, wie ein Mensch in der Wüste? Nein. Nach der Kündigung der belastenden Arbeit habe ich Freiheit pur und Glück erwartet! Aber nein.
Ich war hingegen viel traurig und ich habe viel geweint. Diese Trauer war Ergebnis von der rücksichtslosen Beziehung zu mir selbst, die ich in Deutschland geführt habe: rücksichtslos zu meinem Körper und meiner Seele. So wie die „anderen“, habe ich alles gemacht, um mein Bedürfnis, dazu zu gehören, zu stillen. Nach dem Verlust der Arbeit sah ich, dass ich mich doch geirrt hatte.
Keiner bekommt in Deutschland Akzeptanz
In Deutschland bekommt keiner Akzeptanz für sein Menschsein. Akzeptanz der Gesellschaft ist für mich ein Gefühl, mit dem ich zum Beispiel im Bus fahre und mich von fremden Menschen angenommen fühle. Ich bin dann innerlich entspannt. Wenn ich einkaufen gehe, bin ich auch entspannt, weil ich in gewisser brüderlicher und schwesterlicher Verbundenheit mit der Verkäuferin und anderen Käufern stehe. Ich könnte, ohne nachzudenken, dass ich jemanden störe, kurz ins Plaudern kommen.
Ich habe oft gedacht, ich fühle mich in Deutschland nicht akzeptiert, weil ich Ausländerin bin. Es war aber nach meiner Ansicht ein Quatsch. Viele Deutsche fühlen sich auch nicht akzeptiert. Sie fühlen sich eher von ihren Hunden als von Menschen angenommen. Ja, Hunde und Kinder, das sind die Wesen, die wirklich diese göttliche Magie beherrschen. Eichhörnchen oder dicke und freche Möwen beherrschen es nicht!
In Kirgisistan fühlte ich mich wieder akzeptiert. Das merke ich daran, dass ich entspannt bin. Ich bin entspannt und mache mir keine Sorgen, dass jemand mich ablehnen könnte. In Hamburg bin ich auch entspannt, aber das ist nicht dieselbe Qualität. Wenn ich hier unterwegs bin, fühle ich mich isoliert.
Es gibt von der deutschen Gesellschaft keine echte Akzeptanz. Es ist nur ein Versprechen davon! Wenn du dich noch mehr als jetzt anstrengst, wenn du noch eine weitere Weiterbildung machst, wenn du noch dickere Lippen hast, wenn du noch schlanker wirst und wenn du noch klüger wirst, wenn du noch mehr kaufst und wenn du bitte mal schneller arbeitest! Dann vielleicht kriegst du erstmal eine Anerkennung, dass du toll bist, mehr aber nicht.
Man läuft hinter diesem Versprechen her, aber am Ende bekommt man keine Akzeptanz, sondern Erschöpfung und Enttäuschung. Solange man leistet, bekommt man eine gewisse Zugehörigkeit. Sobald man krank oder nicht leistungsfähig wird, ist diese Zugehörigkeit sehr wackelig und kann einen in Todesangst treiben. Deshalb gibt es viele durchschnittlich entwickelte Menschen, die fanatisch viel arbeiten, um nicht krank zu werden und schön leistungsfähig zu bleiben. So ein Preis, den diese Gesellschaft Menschen für „akzeptiert zu sein“ abverlangt, ist für mich persönlich sehr hoch und fühlt sich nach echtem Betrug an.
Ich denke, jeder in Deutschland muss sich ernsthaft fragen: Wer bin ich ohne meine Arbeit? Wenn als Antwort eine Leere kommt, ist es die Warnung einer seelischen Katastrophe, die früher oder später eintreten kann.
Zum Glück habe ich diese Katastrophe früh genug erlebt, um in weiteren Lebensjahren entspannter zu leben. Ich habe es im dunklen Winter geschafft, mich von meiner Arbeitsidentität in Deutschland zu entfernen. Ich habe jetzt von dieser Maske Abstand. Ab jetzt tue ich, was mich erfüllt und mir Kraft gibt. Ich liebe es, beschäftigt zu sein. Ich habe viele Kompetenzen und Arbeitserfahrung. Aber bei einer Arbeit muss ich nicht mehr unter linearen Zeitdruck, Stress und Wochentagen erstickt sein, weil ich ein Mensch und keine Maschine bin. Lineare Zeit und Kalender werden mir bei meiner nächsten Arbeit als Hilfsmittel dienen.
„Altyn Sandygym“ „Meine goldene Truhe“ in der Jurte
Die Zeit verging. Langsam kam der Frühling. Meine Jurte war nicht mehr so dunkel. Es kam immer mehr Licht rein. Ich fühlte mich entspannter, gruselige Gefühle von Schuld und Angst ließen nach und ich empfand mehr Freude. Ich merkte, dass ich morgens mit weniger seelischen Schmerzen aufwachte, als im Winter. Ich fühlte eine gewisse Kraft in mir, die immer mehr wurde.
Und ich möchte dir den nächsten Reichtum von mir präsentieren, das ist meine goldene Truhe. Sie steht als Symbol für meine persönlichen Talente, die ich immer hatte. Leider habe ich ihr zu wenig Platz in meinem Leben gegeben. Ich habe meine Truhe aufgemacht und ich habe darin viele Schätze gesehen. Da waren so viele Schätze, dass ich sie immer vor Angst wieder zu machen musste. Ein wichtiger Schatz, den ich entdeckt habe, war die Musik.
Als Kind bin ich mit fünf Jahren in eine Musikschule gegangen und habe dort Unterricht in Klavier, Chor, Theorie der Noten und Geige genommen. Mein Vater war ein anerkannter Komponist in Kirgisistan. Er wollte unbedingt, dass ich eine professionelle Musikerin werde. Ich habe es geschafft, drei Jahre dorthin zu gehen. Danach hatte ich doch keine Lust mehr und ich habe angefangen, Unterricht zu versäumen. Mein Vater hat es gelassen, mich zu motivieren, dahin zu gehen. Nun, mit 40 Jahren, habe ich für mich wieder Klavier entdeckt und das hat mich wieder mit einer magischen Sprache der Musik verbunden. Besonders finde ich die Sprache der Noten spannend und ungewöhnlich. Ja und ich lerne schnell und leicht, wie es meine Lehrerin behauptet!
Der nächste Schatz, den ich wiederentdeckt habe, waren das Schreiben und meine Muttersprache, kirgisisch. Plötzlich klang sie für mich wie eine neue Fremdsprache, weil ich sie wie nie zuvor mit Liebe betrachtet habe. Ich habe Radio und Lieder auf Kirgisisch sehr aufmerksam zugehört, Treffen mit meinen Landsleuten organisiert und Poesie in meiner Muttersprache gelauscht. Ah, mein geliebter Vater, als ich mit der Schule fertig war, bestand darauf, dass ich Lehramt für russische Sprache und Literatur studieren soll, obwohl ich so gerne das Fach für Journalistik wählen wollte. Ich habe meinem Vater nachgegeben.
Ich war in meinem Leben ein paar Mal als Lehrerin beschäftigt. Es gefiel mir, aber es war nicht so leidenschaftlich wie das Schreiben. Als Kind habe ich viele Märchen von meinem Vater gehört und ich selbst konnte spontan Geschichten erzählen. Ich weiß noch, wie aufmerksam meine Cousinen meinen Geschichten zugehört haben. Ich liebte es, in meine Geschichte fantastische und gruselige Akzente zu setzen. Als Gegenleistung mussten die Cousinen meine Hände massieren. Im Frühling 2023 habe ich innerhalb von drei Monaten einen kurzen Roman in meiner Muttersprache geschrieben.
Welche Talente ich noch habe, weiß ich noch nicht. Es ist erstmal nur der Anfang. Meine goldene Truhe aus Kirgisistan ist noch voll mit unentdecktem Reichtum. Natürlich ohne meine Freunde, Bekannten und manche besonders starken Menschen, die mich in dunkle Zeiten begleitet haben, wäre ich nicht so schnell wieder stabil. Das war tatsächlich ein schwerer Weg, weil ich mich weder zu Deutschen noch zu kirgisischen Gesellschaften zugehörig fühlte. Ja, ich schwinge immer noch zwischen einem Gefühl von frei zu sein und doch in einer Leere gefangen zu sein. Um nicht umzufallen, helfen mir meine Ausdruckskraft und Seelenverwandten in Deutschland und in Kirgisistan.