Was bedeutet es, unter den Bedingungen von Krieg, Gewalt und Unruhen groß zu werden? Wie weit reicht unser Einfühlungsvermögen für die seelischen Verletzungen und Bedürfnisse von Menschen aus Krisengebieten wirklich an die Realität heran?
Immer wieder stelle ich mir diese Fragen, wenn Menschen mit Fluchterfahrungen aus ihrem Leben erzählen – sei es im persönlichen Gespräch oder in niedergeschriebenen Berichten. Sie erzählen von einem Leben, das sie hinter sich gelassen haben, um der Gewalt, dem Krieg und den Menschenrechtsverletzungen zu entkommen. Und sie erzählen zugleich von Menschen, die dort geblieben sind. Manchmal meine ich eine innere Zerrissenheit zu spüren. Hier leben sie mit der Sehnsucht nach Frieden und Vertrauen. Nicht weniger stark aber fühlen sie sich verbunden mit dem Zurückgelassenen. Erinnerungen an Menschen und belastende Erlebnisse, enttäuschte Friedenshoffnungen und zerplatzte Träume bleiben präsent.
Die Friedenssehnsucht ist groß – aber vieles bleibt schmerzlich und verborgen
Nie kann ich mir anmaßen, bis in die Tiefe nachzuempfinden, was das für einzelne Menschen mit ihrer individuellen Lebensgeschichte wirklich bedeutet. Vieles bleibt verborgen. Aber vielleicht gelingt es, Vertrauen zu vertiefen, zuzuhören, behutsam nachzufragen, mich selbst zu hinterfragen. Vielleicht gelingt es, mehr Aufmerksamkeit zu üben und genauer wahrzunehmen, was hier, aber auch in den Herkunftsländern einwirkt auf das Weiterleben von Menschen.
Wie kann es Menschen, zum Beispiel in Afghanistan, aktuell gelingen, unter so verstörenden Lebensbedingungen an Friedensprozessen mitzuwirken? Woher nehmen sie die Kraft dafür? Lässt sich dort überhaupt eine Vergewisserung für das eigene Leben erfahren, aus der heraus auch für andere Menschen Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln wären?
Heela Nadschibullah und “social healing” als Chance zur Versöhnung
Eine, die ihre Kinderjahre in Afghanistan verbracht hat, ist die afghanische Friedensforscherin Heela Nadschibullah (geb. 1977). Seit vielen Jahren lebt sie in Europa, hat in der Schweiz studiert und arbeitet heute für eine Hilfsorganisation mit Migranten in Ungarn.
Für sie ist das Heilen gesellschaftlicher Traumata ein ganz entscheidender Aspekt der aktiven Friedensarbeit. Und dieses Heilen kann – oder muss manchmal sogar – außerhalb des von Krieg und Unruhen erschütterten Land beginnen. Sie ist davon überzeugt: Nach Zeiten der permanenten Angst, Bedrohung und Verunsicherung geht es zunächst darum, Vertrauen aufzubauen und sich gegenseitig zu verstehen.
Heela Nadschibullah spricht und schreibt in diesem Zusammenhang von „social healing“. Sie meint damit einen Prozess, der immer bei einem selbst anfangen muss. Dazu aber brauchen Menschen zunächst einen geschützten Raum, der ein solches Vertrauen wachsen lassen kann. In Afghanistan selbst sieht sie dafür derzeit nur wenige Chancen. Zwar lassen sich auch diese in der Zivilgesellschaft stärken. Beispiele wie die Bücherbus-Initiative von Freshta Karim in Kabul verdienen große Anerkennung und Unterstützung. Aber zugleich versteht Heela Nadschibullah das, was Menschen außerhalb von Afghanistan an Sicherheit und Vertrauen erfahren, als wirksame Friedensarbeit für Menschen mit Kriegs- und Gewalterfahrungen. So können Vertrauenserfahrungen hier positiv Einfluss nehmen auf Heilungsprozesse und Neuanfänge in Krisenregionen anderswo.
Wie Friedensprozesse ihren Anfang nehmen
Überall dort, wo Menschen sich darin unterstützen, ein Leben in Sicherheit und mit Vertrauen zueinander zu führen und mitzugestalten, können solche Anfänge für einen möglichen Friedensprozess gelegt werden. Auch bei uns, mit mir selbst und mit den Menschen, die davon etwas weitertragen.
Heela Nadschibullah erinnert sich dabei gern an eine alte Weisheitsgeschichte, die sich in vielen Varianten, in verschiedenen Religionen und Kulturen weltweit verbreitet hat. Ich erzähle sie hier in Anlehnung an eine Version eines englischen Geistlichen aus dem Jahr 1100 nach:
„Als ich jung war und meine Visionen keine Grenzen kannte, träumte ich davon, die Welt zu verwandeln in eine friedliche Welt. Aber die Welt veränderte sich nicht. Also beschloss ich, wenigstens mein Land zu verändern, damit Frieden endlich möglich werden kann. Aber auch das erschien mir unveränderbar. Als ich älter wurde, versuchte ich, wenigstens die Menschen zu verändern, die mir am nächsten standen. Aber auch das sollte mir nicht gelingen. Schließlich wurde mir klar: Wenn ich damit anfange, mich selbst zu verändern und Frieden zu finden in mir, dann kann dieser Frieden auch auf andere Menschen ausstrahlen. Mit ihnen gemeinsam kann dieser Frieden in einem Land immer weitere Kreise ziehen. Und – wer weiß – am Ende sogar die Welt verändern.“
Ein Interview mit Heela Nadschibullah zum Weiterlesen: