Ein Dialog über den Glauben – Teil 2

Bereits am 19. April haben wir im "Flüchtling-Magazin" einen Dialog über den Glauben zwischen Julia von Weymarn und Hussam Al Zaher veröffentlicht. Dieses Gespräch findet hier eine Fortsetzung. Zunächst beschreibt Hussam Al Zaher, wie er die Bedeutung des Glaubens in der Familie und Gesellschaft erlebt, aus der er kommt. Im Austausch dazu beschreibt Julia von Weymarn auf der Grundlage des Christentums ihre Gottesvorstellung. Deutlich wird dabei eine Spannung zwischen Bindung und Selbstbestimmung. In diesem Dialog über den Glauben geht es deshalb nicht allein um Gottesvorstellungen, sondern um die grundlegende Frage nach Freiheit und Verantwortung bei wichtigen Entscheidungen und Plänen im Leben.

„Die Familie ist die Basis für unsere Gesellschaft, nicht der Mensch als Individuum“

Hussam Al Zaher erzählt: Der Glaube verbindet uns mit unseren Familien, denn wir glauben, dass unsere Familien uns auch helfen müssen: unsere Eltern, unsere Geschwister, unsere Cousins und Cousinen, und so weiter. Die Familie ist die Basis für unsere Gesellschaft, nicht der Mensch als Individuum wie hier in Deutschland.

Aber: Mit diesem Glauben und dieser Hilfe verliere ich ein Stück meiner Freiheit und Unabhängigkeit. Denn für meine Familie muss ich von meiner Entscheidung Abstand nehmen, wenn sie an meiner Stelle eine andere Entscheidung treffen möchten. Ich kann nichts machen, was sie nicht möchten. Ich bin abhängig von ihren Entscheidungen, von ihrer Meinung.

Was sind denn aber die Entscheidungen, die du jeden Tag in deinem Leben triffst? Wer hat die Entscheidung getroffen, dass du nach Deutschland gekommen bist?

Ich, aber auch Allah – das bedeutet: Ich möchte das machen und Allah hat mir geholfen, um nach Deutschland zu kommen. Aber wenn ich mit dir hier schreibe, dann bedeutet dass nicht, dass dies meine Meinung oder Gedanken sind, sondern es sind die Gedanken von meiner Gesellschaft. So, wie ich die Gesellschaft verstanden habe.

„Die Deutschen glauben: 1 plus 1 ist gleich 2“

Ok, das ist wichtig für mich, dass ich das verstehe und nicht gleichsetze: Hussam=Gesellschaft.

Für mich gilt und du weißt von mir, dass ich viele Gedanken über den Glauben habe. Aber das bedeutet nicht, dass ich Angst vor der Entscheidung habe. Ich treffe gerne Entscheidungen. Ihr aber glaubt an den Materialismus.

Auch ein bisschen ein Vorurteil, oder?

Ja, das ist richtig. Aber dieses Vorurteil hat einen Grund. Die Deutschen glauben: 1 plus 1 ist gleich 2. Wenn man seine Zukunft plant, dann glauben die Deutschen, dass sie ihr Ziel ohne Glück, aber vielleicht mit Geld oder Plan erreichen können. Bei uns sollte man seinen eigenen Plan haben, aber man braucht sehr viel Glück, um sein Ziel zu erreichen, weil wir im diktatorischen System nicht viele Möglichkeiten haben. Aber hier ist es ganz anders mit vielen Möglichkeiten, mit Planen und viel Geduld.

„Meine Herausforderung ist einen gemeinsamen Punkt zu finden.“

Dieser Glaube bedeutet das Gegenteil von dem, was wir glauben. Alle Menschen müssen einen Plan haben; wenn sie etwas machen wollen, dann können sie das machen. Aber es braucht Geduld und Zeit und die Entschlossenheit und wir selbst machen unser Glück, weil die Menschen sehr stark sind. Und ich bin jetzt durcheinander, weil beides richtig ist und ich an beides glaube, aber das geht nicht, weil es Gegensätze sind. Meine Herausforderung ist einen gemeinsamen Punkt zu finden.

Ist der Mensch sehr stark? Oder Allah ist sehr stark? Oder beide sind sehr stark!

Ich verstehe was Du meinst und es ist sicher nicht einfach zwischen den Religionen, Kulturen zu leben. Dennoch glaube ich nicht, dass es Gegensätze sein müssen, zumindest nicht im Christentum. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, zum Ebenbild Gottes (Bibel, 1.Moses). Wir tragen die Göttlichkeit in uns und können sehr stark sein, dennoch sind wir nicht Gott, sondern Mensch und sind daher auch schwach.

Ich glaube an die Göttlichkeit in dir und mir und versuche immer diese nicht zu vergessen. Wir sind aufgerufen nach dem Bild Gottes zu leben. Unser Gott ist ein Gott der Nächstenliebe, der Fürsorge, der Klarheit, der Schöpfung, und vieles andere mehr. Dieser Gott steckt in allem, auch in uns. Es ist eine Kraft, die mich irgendwie führt, die in mir sitzt, es ist nichts was außerhalb ist. Es gibt einen Plan, aber ich gestalte ihn mit.

Wir haben schon mal darüber gesprochen, dass für mich eine Leitlinie immer wieder die Aussage ist “Das Leben stellt mir die Fragen und ich gebe die Antworten darauf”. Das heißt für mich, dass das Leben (Gott) etwas für mich ausgedacht hat und mir mit allem, was passiert in meinem Leben eine Frage stellt.

„Ohne freie Entscheidung geht das nicht. Aber nicht alle, die religiös sind, können das verstehen oder glauben“

Und wie ich darauf reagiere, ob ich es anpacke, ob ich mich ärgere, ob ich es gestalte, ob ich in Trauer versinke, ob ich mich freue, ist meine Antwort. Ich kann mich zu jeder Sekunde in meinem Leben entscheiden etwas zu tun oder nicht zu tun. Ich weiß nicht, was mir passiert, das ist göttlicher Wille, aber wie ich damit umgehe, dass ist meine Größe und Stärke. Kannst du verstehen, was ich meine?

Vielleicht ist Gott unser Herz, weil er Liebe ist?

Das ist ganz richtig, was du geschrieben hast. Im Leben muss man immer in jedem Moment Entscheidungen treffen und ohne diese Entscheidung kann man nicht leben oder überleben. Gott hat uns gerufen, Verantwortung zu tragen und verantwortlich zu sein. Ohne freie Entscheidung geht das nicht. Aber nicht alle, die religiös sind, können das verstehen oder glauben.

Unsere Gesellschaft braucht, dass wir an uns selbst glauben. Ich mache, was ich möchte und Allah gibt mir Hilfe. Oder ich sitze und Allah macht für mich was er möchte. Gott  ist stark und gut, aber er ist nicht Mensch. Vielleicht ist er unser Herz, weil er Liebe ist oder vielleicht ist er unser Gehirn, weil er weise ist oder vielleicht ist er unser Gesetz, weil er fair ist oder vielleicht ist er alles.

Im Gespräch: Julia Von Weymarn

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Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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