Meet a Jew – Jüdischsein in Deutschland

Im Rahmen unseres Fokusthemas „Jüdisches Leben“ hat die kohero-Redaktion an dem Begegnungsprojekt „Meet a Jew“ teilgenommen. In einem Interview haben wir unsere Begegnung reflektiert: Wie es für uns war, könnt ihr hier lesen.

Meet a Jew“ ist ein Begegnungsprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland. Es schafft Begegnungen zwischen Menschen jüdischen Glaubens und Menschen, die mehr über das Judentum und Jüdischsein in Deutschland erfahren möchten. Dabei kommen zwei jüdische Teilnehmende in die Gruppe, erzählen aus ihrem Alltag und beantworten Fragen. In unserem Fall fand das Gespräch online statt. In einem Interview haben Mitglieder der Redaktion die Begegnung reflektiert.

Was hast du dir von der Begegnung erhofft und mit welchen Fragen und Erwartungen bist du in das Gespräch gegangen?

Anna Sophie: Ich habe gehofft, dass ein angenehmes und natürliches Gespräch entsteht, in dem wir uns alle auf Augenhöhe unterhalten, und nicht das Gefühl entsteht, dass eine Gruppe der anderen Gruppe „einen Vortrag“ hält. Ich hatte keine lange Liste an Fragen entworfen, denn es sollte ja einfach ein Gespräch werden.

Natalia: Ich habe relativ kurzfristig erfahren, dass unsere Redaktion bei „Meet a Jew“ mitmacht. Ich bin also ohne konkrete Erwartungen, aber gespannt und voller Vorfreude online gegangen.  Da es in meinem Leben wenig Momente gab, in denen ich mich aktiv mit dem Judentum auseinandergesetzt habe, habe ich mich über diese Möglichkeit sehr gefreut. Ich habe mir einen persönlichen Einblick in jüdisches Leben in Deutschland erhofft, der über das hinausgeht, was etwa im Internet zu finden ist.

Anna H.: Ich habe vor allem erwartet, Einblicke in den jüdischen Alltag zu bekommen. Ich meinem Umfeld habe ich wenig Kontakt zu jüdischen Menschen, eher zu Muslim*innen und Christ*innen. Generell spielt Religion in meinem Leben keine sehr große Rolle. Auch bei den meisten meiner engeren Freund*innen ist das so. Daher hat es mich interessiert, was jüdisch zu sein vor allem für junge Menschen bedeutet.

Gab es in deinem Leben zuvor Berührungspunkte mit dem Judentum?

Emily: Zugegebenermaßen spielt das Judentum nur theoretisch, und lediglich reduziert auf wenige Aspekte, in meinem Leben eine Rolle – ich lese oft über Antisemitismus, über den Nahost-Konflikt und den zweiten Weltkrieg. Über jüdische Lebensrealität, über Feiertage und jüdische Communities in Deutschland weiß ich jedoch fast nichts.

Anna Sophie: Bevor das Judentum Thema bei kohero wurde, habe ich mich auch noch nie wirklich mit der Religion oder mit der Lebensrealität von Jüd*innen heute in Deutschland beschäftigt. In der Schule wurde das Judentum nur im Zusammenhang mit dem Holocaust behandelt, Antisemitismus wurde als Phänomen der Vergangenheit betrachtet. Bei meiner Recherche für kohero musste ich dann schockiert feststellen, dass ich so gut wie gar nichts über das Judentum wusste. Ich kannte nur einen einzigen jüdischen Feiertag – Chanukka (aus dem amerikanischen Fernsehen). Und ich wusste beschämenderweise nicht, was für ein riesiges Problem Antisemitismus noch heute ist.

Jenny: Ich hatte ein paar Tage vorher ein Interview mit Sasha Marianna Salzmann. In dem Interview ging es unter anderem um jüdisch-queere Perspektiven.

Diane: In der Realschule kam ein jüdischer Zeitzeuge zu Besuch und hat von seinen Erlebnissen erzählt. Ehrlich gesagt ist davon nicht viel hängen geblieben; damals waren andere Dinge wichtiger. Deshalb war ich auf das Treffen sehr gespannt. Erwartungen hatte ich keine – ich war einfach neugierig.

Wie hat sich die Begegnung für dich angefühlt?

Emily: Ich war zuerst unsicher über das Format der Begegnung: Wenn sich eine große Gruppe Unwissender mit zwei Menschen jüdischen Glaubens trifft, die allein durch ihre Religionszugehörigkeit zu einer solchen Begegnung qualifiziert sind, kann sich das schnell wie „Othering“ anfühlen. Das heißt, man kategorisiert jemanden als „andersartig“ oder „fremd“ und distanziert sich gleichzeitig von ihm oder ihr. Schließlich war ich jedoch erleichtert, dass Igor und Julia mit der Situation umzugehen wussten und uns ermutigten, alle Fragen zu stellen. So hat sich das Gespräch sehr ungezwungen angefühlt.

Anna Sophie: Ich glaube, alle von uns waren anfangs noch sehr aufgeregt und verunsichert. Doch mit der Zeit hat sich ein angenehmes Gespräch entwickelt. Natürlich hingen immer mal wieder Fragen, wie „Darf ich da nochmal nachhaken?“ oder „Wie formuliere ich das jetzt am besten?“ in der Luft, aber ich denke, das ist normal. Ich fände es auch absolut nicht richtig, die zwei jüdischen Gesprächspartner*innen ungefiltert und ohne Distanz mit Fragen zu bombardieren. Wie bei jedem normalen Gespräch sollte man ein Gefühl dafür haben, wo gewisse Grenzen für die andere Person sind, und diese auch nicht überschreiten.

Anna H.: Was ich erwartet habe, hat sich auch erfüllt. Ich habe viel darüber gelernt, wie unsere Gesprachspartner*innen ihr Jüdischsein leben. Etwas überrascht hat mich, wie selbstverständlich sie die Religion und ihre Regeln nehmen.

Natalia: Schon während des Gesprächs und noch eine Weile danach hat mich beschäftigt, dass wir Julia und Igor in dieser Situation auf ihren jüdischen Glauben reduziert haben. Dafür haben wir uns zwar alle getroffen und so scheint die Idee von „Meet a Jew“ zu sein, aber es war anfangs ungewohnt für mich. Noch stärker war allerdings das Gefühl, dass mir während des Gesprächs sehr bewusst wurde, wie vielfältig wir Menschen sind.

Ich fand es sehr bereichernd, dass mir ein bisher unbekannter Teil dieser Welt eröffnet wurde, und bereue ein wenig, dass ich mich nicht früher mit dem Judentum beschäftigt habe. Julia und Igor haben von interessanten Geboten, von Feiertagen und deren Ritualen erzählt, aber auch (innerjüdische) Konflikte und den spürbaren Antisemitismus in Deutschland angesprochen.

Diane: Am Anfang des Treffens fühlte ich mich etwas komisch, weil ich doch überlegt habe, ob es ein Richtig oder Falsch bei den Fragen geben könnte. Aber Julia und Igor waren so entspannt, dass ich ihnen einfach gern zugehört habe. Als es um den Antisemitismus und die aktuelle Lage in Deutschland ging, erzählte Igor von seinem Freund, der sagte: „Ich habe immer eine Hand am Koffer.“ Das fand ich ziemlich krass. Auch die Tatsache, dass sich Igor selbst Gedanken darüber macht.

Was hast du gelernt?

Emily: Mir ist klar geworden, dass Menschen jüdischen Glaubens keine homogene Gruppe sind: Julia und Igor hatten durchaus unterschiedliche Positionen zum jüdischen Leben in Deutschland und leben ihren Glauben auf unterschiedliche Art und Weise. Außerdem habe ich einige praktische Dinge gelernt: zum Beispiel über die Geschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge und wie Jüd*innen den Schabbat verbringen.

Anna Sophie: Ich fand es sehr lehrreich, einen persönlichen Einblick in die verschiedenen Traditionen und Feiertage des Judentums zu bekommen und zu erfahren, wie individuell und unterschiedlich Personen jüdischen Glaubens diese leben. Ich fand vor allem Igors Idee, das Handy am „Ruhetag“ abzuschalten, sehr inspirierend und dachte mir, dass die Mehrheitsgesellschaft sich davon vielleicht noch eine Scheibe abschneiden könnte. Außerdem wusste ich vorher nichts über „jüdische Gesetze“, z.B. dass das Jüdischsein über die Mutter vererbt wird. Es war interessant, einen kleinen Einblick zu kriegen, was es vielleicht auch an innerjüdischen Konflikten gibt, über die die jüdische Community streitet.

Jenny: Ich habe viel über die Integration von jüdischen Praktiken in den Alltag gelernt. Ich möchte mir jetzt einen Kalender für alle religiösen Feiertage besorgen, damit ich das auch in meinem Alltag mehr mitdenke.

Gibt es etwas, das dich im Gespräch überrascht oder berührt hat?

Emily: Ich denke, am meisten hat mich der Satz „Eine Hand ist immer am Koffer“ berührt. Auch wenn Julia und Igor betont haben, dass sie sich allgemein sicher in Deutschland fühlen, wurde mir klar, dass manche Menschen einen Notfallplan haben müssen, und dass es ein großes Privileg ist, sich um so etwas keine Gedanken machen zu müssen.

Anna Sophie: Igor meinte, dass das Antisemitismusproblem vor 10 bis 15 Jahren nicht so allgegenwärtig war und er sich damals sicherer gefühlt hat als heute. Heute überlege er schon manchmal, ob seine Kinder sicher seien. Ich war einfach nur unglaublich traurig und wütend, dass sich ein Vater in Deutschland Gedanken darüber machen muss, ob seine Kinder sicher sind, wenn sie Menschen von ihrer Religionszugehörigkeit erzählen.

Außerdem ist mir sein Satz: „Ja, ich kann meine Religion frei ausleben – in meinen vier Wänden“ sehr stark in Erinnerung geblieben. Igor hat davon geredet, wie absurd es ist, dass er als Jude für die Taten von Netanyahu verantwortlich gemacht wird. Er habe ja noch nicht einmal einen israelischen Pass, er dürfe dort nicht wählen. Er sei Deutscher und nicht Israeli. Und dann das Thema Symbolpolitk der deutschen Politiker*innen. Julia meinte so eindrücklich: „Einmal im Jahr ’nie wieder‘ sagen und dann war’s das“. Wir müssen aufhören, immer nur die gleichen Rituale abzuspielen, und anfangen, uns ernsthaft mit dem Thema „Jüdisches Leben heute“ auseinanderzusetzen.

Anna H.: Berührt hat mich, dass es immer schwieriger wird, die jüdische Religion zu praktizieren, ohne Diskriminierung oder Anfeindungen zu erfahren, bzw. dass sich viele jüdische Menschen zumindest Gedanken darüber machen müssen, ob das Leben hier sicher ist.

Was ist nach dem Gespräch anders als vorher?

Emily: Entgegen meiner anfänglichen Skepsis glaube ich nun, dass das Projekt „Meet a Jew“ wirklich wichtig ist – viele Menschen in Deutschland haben überhaupt keine praktischen Berührungspunkte mit dem jüdischen Glauben. Durch eine persönliche Begegnung wird das Judentum greifbarer und weniger abstrakt. Man kann Gesichter und persönliche Geschichten mit dem Thema verbinden.

Anna Sophie: Ich fühle mich persönlich verbundener mit diesem Thema und fühle eine gewisse Verantwortung, Menschen in meinem Umfeld von dieser Begegnung zu erzählen und Menschen für dieses Thema zu sensibilisieren.

Anna H.: Ich hätte Lust, mich tiefgehender mit Menschen zu unterhalten, die ihre Religion aktiv leben. Mir ist sehr stark bewusst geworden, wie sehr wir uns in Deutschland in der Auseinandersetzung mit dem Judentum auf den Holocaust beschränken. Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte ist wichtig und richtig – das steht nicht zur Diskussion. Aber wir übersehen oft, was jüdisches Leben heute bedeutet.

Welche neuen Perspektiven hat die Begegnung für dich eröffnet?

Anna H.: Meine Perspektive auf die deutsche Bildung hat sich total gewandelt. Ich habe mal geglaubt, dass wir in der Schule schon ganz gut über Antisemitismus aufgeklärt werden und dass  Antisemitismus so nie wieder zu einem Problem in Deutschland werden kann. Heute sehe ich das wie Julia: Wir müssen mehr über jüdisches Leben abseits des Holocaust lernen, damit Jüd*innen in Deutschland endlich als Teil der „Normalität“ gesehen werden.

Natalia: Durch die (virtuelle) Begegnung bei „Meet a Jew“ wurde mir klar, dass ich zwar ein offener Mensch bin und gerne Neues lerne, aber nicht immer aktiv danach suche. Es gibt so viele Perspektiven, die ich noch nicht kenne. Das möchte ich ändern. Ich will, dass wir als Gesellschaft und als Redaktion von kohero dazu beitragen, dass sich alle Menschen sicher fühlen, dass sie leben können, wie sie wollen, und das auch sichtbar nach außen, nicht versteckt.

Bezogen auf unser Gespräch mit Julia und Igor von „Meet a Jew“ wäre das eine christlich-jüdisch-muslimische Kultur in Deutschland, weil diese Vielfalt unsere Realität und auch Stärke ist. Wir sollten miteinander sprechen und nicht übereinander. Das ist ein Grundsatz bei uns in der kohero-Redaktion und er sollte sich generell in unserer Gesellschaft etablieren.

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Emily ist Wahlhamburgerin, Sinologiestudentin und außerdem begeistert von Sprache und Politik. Bei kohero möchte sie diesen beiden Leidenschaften zusammenbringen und mehr über Migration und die Herausforderungen, denen Menschen dabei begegnen, lernen. Sie schreibt Artikel und arbeitet am Newsletter mit.

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