Wenn man hier in Deutschland wie ich Waldorflehrerin ist, passen die zwei Feiertage – das deutsche und das ukrainische Weihnachtsfest – nicht zusammen, denn hier beginnt dann schon wieder die Schule. Seit vielen Jahren habe ich mich letztes Weihnachten zum ersten Mal krank gemeldet und bin länger in meiner Heimat bei meinen Eltern geblieben, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Mich ließ dieses starke Gefühl, das sich irgendwas verändern wird, nicht los. Es war wie eine Vorahnung.
Und obwohl meine Eltern hier in Deutschland vor dem Krieg sicher sind, also alles in Ordnung ist, habe ich ein starkes Gefühl von Sehnsucht. Das Haus meiner Eltern steht noch, meine Eltern sind hier. Aber ich finde keinen Ort zum Trauern, denn alles ist anders geworden. Ich kann nicht weinen, aber kann andere Menschen unterstützen, ihre Geschichten zu erzählen.
Es ist Februar 2022 und die Welt verändert sich. Der Krieg beginnt und bringt eine Welle von Frauen mit ihren Kindern, Rentnern und Rentnerinnen nach Deutschland und die Welt, darunter auch meine Eltern: Valentyna und Semen Marushko. Doch wer fehlt, sind die Väter, Brüder und Söhne. Auch mein Bruder Sergej fehlt.
Meine Eltern waren zwiegespalten, ein Pflichtgefühl plagte sie, denn der Krieg und das Fliehen sind zwei Seiten: bleiben oder gehen. Nicht nur das Bleiben in der Ukraine, auch das Bleiben als geflüchteter Mensch in einem unbekannten Land.
Seit 10 Jahren wohne ich schon in Deutschland, erst seit einem Jahr habe ich meinen permanenten Aufenthaltstitel. Doch schon nach einem Jahr, 2013, begann mit der Maidan-Revolution ein Krieg in meiner Heimat. Mein Traum, eine eigene Rudolf-Steiner-Schule zu gründen, verflog vorerst, denn nun galt meine ganze Aufmerksamkeit den Menschen der Ukraine.
Kultur war mein Medium, um Aufmerksamkeit in der Welt zu schaffen, deshalb gründete ich die Initiative „ArtMaidan“.
Ein neues Land, ein neues Leben beginnt
Als ich nach Deutschland kam, schien es mir unmöglich, weiter als Journalistin tätig zu sein, denn der eingetragene Grund meines Aufenthaltes: Pädagogik. Ich gründete mit Einwohner*innen von Lutzk eine Waldorfschule, mitten in einer Pandemie, die erste in der Westukraine. Zwei Jahre später sitzt jetzt ein Teil der Schüler*innen in Kellern und der andere in Bergstedt an der Rudolf-Steiner-Schule – darunter auch meine Mutter und meine Nichten.
In den Frühlingsferien konnten meine Schüler*innen in der Schule in Hamburg übernachten, spielen, essen und für einen kleinen Moment ihre Sorgen weilen lassen.
Als die Ferien dem Ende nahe kamen, begann die Suche nach Unterkünften. Erst kamen alle in Gastfamilien unter, doch nach den Sommerferien entschlossen sich viele Familien, zurück in die Ukraine zu kehren, denn auf dauerhafte Hilfe angewiesen zu sein, fiel vielen von ihnen schwer.
Dank der Großzügigkeit meiner Vermieterin kamen meine Mutter und Nichten zu Beginn in Gästezimmern unter. Mein Vater und mein Bruder waren zu dieser Zeit noch in der Ukraine, mein Bruder an der Front und mein Vater alleine in Lutzk.
Meine Mutter hatte die Ukraine nur zwei Mal in ihrem Leben verlassen: 1968 nach Ungarn und 2019 nach Deutschland über Polen, um mich zu besuchen, doch 2022 dann zum dritten Mal. Sie saß mit Nichten und Schulkindern im Bus, um dem Krieg zu entfliehen.
Alles war neu. Nicht im eigenen Bett, nicht im eigenen Zimmer, nicht im eigenen Land zu schlafen, fiel allen schwer. Neue Sprache, neue Sitten und nicht einmal das Alphabet ist ihnen geblieben.
Meine Mutter kam nur mit dem Gedanken, meine Nichten in Sicherheit zu bringen, denn mit 63 Jahren fällt eine solch drastische Veränderung nicht leicht. 1.242 km entfernt waren mein Vater und Bruder und ihre 40 Blumen und Pflanzen.
„Es wird sich alles verändern“, hatte ich im Gefühl, doch wie es gekommen ist, hätte ich mir nicht erträumen können. Meine Mutter, meine zwei Nichten, eine Mitbewohnerin und meine Vermieter, alle unter einem Dach. Meine Mutter fing zuerst meine Küche zu ordnen, zu putzen und umzustrukturieren, danach kamen das Badezimmer und Diele. Nichts blieb an Ort und Stelle, sogar die Türen und Wände wurden neu gestrichen. „Wenn ich mit den Gardinen fertig bin, bin ich weg“, sagte sie ständig und wäre mein Vater nicht gekommen, so hätte sie bestimmt meine zahlreichen Bilder weiß bemalt.
Das Wort geflüchtet oder Flucht wird nicht benutzt, anstelle sagt meine Mutter, sie sei „nur“ zu Besuch. Und so kam mein Vater Anfang August ebenfalls nur zu Besuch. Inzwischen hat meine Schwägerin meine Nichten mit nach Polen genommen, wo sie auf eine bessere Lage hofft. Endlich sind Mama und Papa vereint. Nach mühseligen Gesprächen mit den Behörden kam dann doch der Reisepass, denn mein Vater hatte als Rentner nie gedacht, sein Land verlassen zu müssen. Er sagte immer, mit seiner Rente würde nur ein One-Way-Ticket nach Polen reichen.
40 Jahre arbeitete mein Vater als LKW-Fahrer. In Hamburg war er jeden Tag nach seiner Ankunft am Busbahnhof, um die Busse zu beobachten, die in die Ukraine fahren. „Guck, wie eng die Straßen sind“. Er erzählt detailliert über die Buse, wie sie zum Ein- und Aussteigen ihre Höhe verändern, dass Autos an Zebrastreifen stehen bleiben, jedes kleinste Detail, was ihm ins Auge fällt, wird berichtet.
Meine Freund*innen unterstützen mich und meine Eltern wo sie können. Mama und Papa haben jetzt einen komplett neuen Look: kein Tuch, Sportschuhe statt Absätze und mein Vater Jeanshose und ACDC-T-Shirts. Nach zwei Wochen im Glück mussten meine Eltern das Haus verlassen und die Suche nach einer Unterkunft begann aufs Neue. Arbeitskolleg*innen, Freund*innen und Bekannte – alle wurden gefragt.
Häufig kam nur eine zeitlich begrenzte Zusage, was ich meinen Eltern nach zwei mühseligen Umzügen ersparen wollte, also ging die Suche weiter. Doch dann fanden wir etwas, der Schlüssel für das eigene Zuhause wurde überreicht. Eine leere Wohnung in bester Lage und schon wieder sind es meine Freund*innen, die helfend zur Seite stehen, mit Möbeln, Geschirr und allem, was eine neue Wohnung benötigt, ist im Handumdrehen organisiert. Alles nach dem Geschmack meiner Eltern. Als wäre die Zeit stehen geblieben.
Als „Besucher“ bekommen meine Eltern, wie alle Besucher*innen aus der Ukraine, einen 2-jährigen Aufenthaltstitel. Mein Vater gewöhnt sich schnell an seine neue Umwelt, er kann ein „großes“ Bier bestellen, erzählt seinen Freunden in der Ukraine, wie viel ein Bier kostet und philosophiert mit ihnen, weshalb man in Deutschland keinen Vodka zu seinem Bier trinkt.
Lesen wurde zur neuen Leidenschaft meines Vaters, er verschlingt jedes einzelne Buch von mir, das ich mir über die Jahre angesammelt habe. Tag für Tag ein neues Buch und was nicht fehlen darf, ist mitzuteilen, worüber er gelesen hat. So sitzen meine Eltern abends im Bett und unterhalten sich über die ukrainische Literaturwelt und ihre Gedanken zu bestimmten Autor*innen.
Erst mit Beginn der „Besuche“ aus der Ukraine besitzt die Zentralbibliothek Hamburg einen Bestand ukrainischer Werke, meine Bandbreite an literarischen Werken aus der Ukraine gab ich eilend an die Bibliothek. Die Anzahl der Bücher steigt Woche für Woche an, momentan gibt es bereits über 1.100 Bücher in ganz Hamburg. Nicht genügend, um eine eigene Abteilung zu haben, aber immer noch besser, als auf die russische Abteilung verwiesen zu werden.
Was meine Eltern seit ihrer Ankunft in Deutschland bewegt, möchte ich genauer wissen und habe ihnen einige Fragen über ihre Eindrücke, Träume und den Krieg in unserer Heimat gestellt.
Was ist hier in Deutschland anders als in der Ukraine?
Valentyna: Sauberkeit, sauberes Wasser, frische Luft, Hamburg ist eine grüne Stadt und es gibt viele alte Bäume. Alles ist für die Menschen: das Wasser wird aufbereitet, der Bus senkt sich ab, wenn jemand mit Kinderwagen oder Rollator aus- oder einsteigen will.
Semen: Niemand ist in Eile, alle sind entspannt und höflich. Die Luft ist klar, man riecht nicht ständig den Gestank der Autos. Es gibt viele Kanäle, wohin dein Auge geht, dort ist Wasser. Man hat heißes Wasser, kaltes Wasser – immer. Nicht so wie bei uns, manche haben den ganzen Sommer kein Wasser.
Was vermisst ihr am meisten?
Valentyna: Was vermisse ich? Meine Pflanzen. Ich habe 40 in Lutsk und 25 in meinem Elternhaus in der Ukraine. Tiere und Pflanzen mag ich so sehr.
Semen: Ich vermisse es, mit meinen Freunden zu feiern. So viele Geburtstage und Feste verpasse ich. Und hier ist alles so teuer.
Was ändert ihr, wenn ihr zurück in die Ukraine kommt?
Valentyna: Ich will nie wieder so hart physisch auf dem Feld arbeiten. Und ständig fährt man zwischen Stadt und Land hin und her. Vielleicht pflanze ich ein paar Zwiebelchen an, nicht mehr. Vielleicht bin ich hier in Deutschland zu faul geworden? Ich habe gesehen, welche Möglichkeiten es hier gibt, auch in unserem Alter. Wir haben vorher nie “Urlaub” machen können.
Semen: Putin hat uns ein “Reiseticket” gegeben.
Valentyna: Die Not hat uns geholfen. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wir haben noch ein Haus, in das wir zurückgehen könnten. Wir haben aber großes Mitleid mit den Menschen, die alles verloren haben. Die jetzt nichts mehr haben.
Semen: Alle Männer wurden geschickt, schützen uns, aber sterben dann.
Valentyna: Sie kommen im Sarg nach Hause. Das ist so furchtbar.
Die Zukunft
Welche Träume habt ihr? Wollt ihr weiter verreisen?
Valentyna: Momentan kann ich gar nicht träumen. Ich weiß nicht, wie das Leben sein wird.
Semen: Welche Träume denn? Wie haben hier in Hamburg alle Völker gesehen. Man braucht nicht reisen, denn schon am Bahnhof sieht man alle Nationen. Deutsche, Türk*innen, griechische und portugiesische Menschen, afghanische, afrikanische… Wozu soll ich reisen?
Das Leben nach dem Krieg?
Valentyna: Nach dem Krieg lernen die Menschen, zusammen zu leben. Ganz gemischt.
Vielleicht ist das Freiheit?
Valentyna: Meiner Meinung nach, wenn man in einem neuen Land ist, muss man sich anpassen, tolerant sein, höflich, zielstrebig sein – kämpfen.
Semen: Menschen aus verschiedenen Nationalitäten sollen zusammenleben und -arbeiten.
Was ist schon jetzt Teil eurer Erinnerung?
Valentyna: Zum ersten Mal in meinem Leben war ich am Meer. Zum ersten Mal. Und in diesem Sommer war ich sogar fünfmal da. Das war wunderschön, trotz dieser Kälte.
Semen: Es ist windig, aber das Wasser ist warm.
Was wünscht ihr den Leser*innen?
Valentyna: Ich wünsche mir, dass der Himmel über Deutschland immer friedlich bleibt. Ich wünsche allen Gastfamilien, die uns Ukrainer*innen aufgenommen haben, dass sie ein langes und gesundes Leben führen. Wenn du etwas Gutes tust, dann bekommt man das 100fache zurück. Das wünsche ich ihnen.
Semen: Ich bedanke mich herzlich bei allen, die uns Ukrainer*innen unterstützen. Besonders die Deutsche Bahn mit dem 9-Euro-Ticket, das war sehr gut. Ich bin zu dir, meiner Tochter, gefahren und alle freuen sich, dass wir so verbunden sind. Es gibt aber auch Menschen, die geflüchtet sind, die keine Verwandtschaft hier haben. Wir sind so froh, dass unsere Tochter in Deutschland lebt und wir zu Besuch kommen können.
Dieser Beitrag ist im Schreibtandem mit Johannes Campos entstanden.