Keine Nachrichte sind nicht immer gute Nachrichten

Während die Welt seit Anfang des Jahres auf die Ukraine schaut und die EU Menschen, die dort vor dem Krieg fliehen, mit enormer Solidarität aufnimmt, befinden sich noch immer Geflüchtete in der Grenzregion von Polen und Belarus. Über die Lage vor Ort, Kriminalisierung von Helfer*innen und menschliches Leid.

Die Aufmerksamkeit war groß, als im vergangenen Herbst immer mehr Menschen versuchten, in die EU zu gelangen. Doch das belarussische Militär hinter und polnische Grenzsoldaten vor ihnen, ermöglicht(e) ihnen kein einfaches Weiterkommen. Hilflos, schlaflos und zum Teil traumatisiert stecken sie noch immer in den Wäldern fest – nur, dass seit Monaten kaum noch darüber berichtet wird und der nächste Winter schon in den Startlöchern steht.

„Fast immer war es das Erste, was alle Helferinnen und Helfer lernen mussten zu behandeln“, erzählt Ana*. Auch sie. Gemeint ist der Immersionsfuß, auch Schützengrabenfuß genannt, den man eigentlich aus dem ersten und zweiten Weltkrieg oder aus Zeiten, als die USA in Vietnam Krieg führte, kennt. Tage und Wochen, Kilometer zurückgelegt, in den immer gleichen, durchnässten Schuhen – im feuchten Gewebe und kleineren Wunden nisten sich Bakterien und Pilze ein. Dies führt zu schlimmen Entzündungen und im schlimmsten Fall zum Tod. „Die wenigsten unserer Ärzt*innen wussten anfangs, was zu tun ist, weil sie keine Erfahrung damit hatten“.

Ana ist Polin und wohnt nur wenige Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt im Osten des Landes. Seit letztem Herbst hilft sie Menschen, die auf ihrer Flucht in den sumpfigen Grenzwäldern von Polen feststecken. Sie verfüge mittlerweile über ziemlich fundiertes medizinisches Wissen. Der Immersionsfuß sei die häufigste Verletzung, die sie behandeln müsse.

„Jetzt, wo die ganze Welt Richtung Ukraine blickt, fehlen uns die Zeugen“

Auf die Frage, was sich seit dem Ukrainekrieg an der polnischen EU-Außengrenze zu Belarus geändert hat, antwortet Ana zunächst, „nichts“, und lacht. Sie meint damit, dass nach wie vor Menschen versuchen, von Belarus in die EU zu gelangen. Nach wie vor irren sie Tage oder Wochen umher, können nicht vor und nicht zurück. Nach wie vor gibt es weder Unterstützung vonseiten Polens noch der EU oder den großen Hilfsorganisationen. Dann fügt sie hinzu „Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat sich unsere Situation sogar noch verschlechtert.“

Marta Górczyńska, Anwältin für Menschenrechte, spezialisiert auf Asyl- und Migrationsrecht, beschreibt es so: „Jetzt, wo die ganze Welt Richtung Ukraine blickt, fehlen uns die Zeugen. Es gibt mehr gewalttätiges Verhalten, mehr Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Flüchtlingen und mehr Versuche unsere humanitäre Hilfe zu kriminalisieren.“ Marta Górczyńska genauso wie Ana gehören zum Netzwerk der Grupa Granica (dt. Grenzgruppe). Als Antwort auf fehlende politische und humanitäre Hilfe hat sich das Bündnis letzten Herbst zusammengefunden. Es sind Menschen der polnischen Zivilgesellschaft, die helfen.

Im Herbst letzten Jahres spitzt sich die Lage an der Grenze zu. (Ahmad Shihabi berichtete im November darüber) Lukaschenko holt Geflüchtete und Migrant*innen, größtenteils aus Ländern, wie Afghanistan, Iran, Irak oder Syrien, nach Belarus, um sie an der EU-Grenze abzuliefern. Aber auch aus anderen asiatischen und afrikanischen Ländern versuchen die Menschen hier nach Europa zu gelangen. Als Antwort darauf errichtet Polen eine drei Kilometer breite und 400 Kilometer lange Sperrzone für Helfer*innen, Journalist*innen und Rechtsanwält*innen und legalisiert Pushbacks. Geflüchtete, die es über die Grenze nach Polen schaffen, werden abgewiesen (oder unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert) und häufig direkt zurückgebracht – doch Belarus verweigert ihnen die Rückkehr und schickt sie erneut zur Grenze. Eine Falle.

„In der Nacht sind wir weniger sichtbar“

Obwohl sich seit Ende Juli der Grenze wieder bis auf 200 Metern genähert werden darf, sind Grenzschutzbeamt*innen, Militär und Polizei omnipräsent. 180 Kilometer sind inzwischen durch Stahl und Stacheldraht sowie einer 5,5 Meter hohen Mauer gesichert. Die Sicherheitsbeamt*innen seien sehr kreativ darin, Gründe zu finden, sie von ihrer Arbeit abzuhalten – so fadenscheinig sie auch sein mögen, erzählt Ana. Manchmal dauere es mehrere Stunden, um ihre Personalien aufzunehmen, manchmal würden sie durchsucht oder müssten Bußgeld bezahlen, und manchmal würden sie auch festgehalten – über Nacht, 24 oder maximal 48 Stunden. Auch wenn sie, wie fast alle Helferinnen und Helfer, schon häufig gestoppt, ausgefragt und mitgenommen wurde, hatte sie bisher Glück.

Andere Fälle dagegen endeten auch schon vor Gericht. Den Helfer*innen wird illegale Hilfe beim Überqueren der Grenze wird vorgeworfen. Ana sagt, das sei ihre große Angst – dadurch könne sie auch ihren Arbeitsplatz verlieren. Aber schwerer noch wiege die Angst beziehungsweise die Gewissheit, dass an dieser, ihrer, Grenze, Menschen sterben.

Die Hauptaufgabe ihrer Hilfstätigkeit bestehe darin, Essen, Trinken, Schlafsäcke und andere wichtige Versorgungsmittel mit Rucksäcken in die Wälder zu bringen sowie die medizinische Erstversorgung zu leisten. Häufig werden sie von den hilfesuchenden Menschen direkt kontaktiert, die irgendwie an ihre Nummer gekommen sind. Sie sagen den Helfer*innen, was sie brauchen. Wenn sie sich dann auf den Weg machen, sei es vor allem wichtig, nicht gesehen zu werden. Das sei am Tag schwieriger. „In der Nacht sind wir weniger sichtbar, aber wir sind uns auch bewusst, dass wir nicht unsichtbar sind“, so Ana. Denn Nachtsichtgeräte der Sicherheitskräfte können sie auch im Dunkel aufspüren, außerdem sei es schwieriger, den Weg zu finden.

„Unterschlupfe zum Ausruhen und Aufwärmen gibt es keine, dafür Bisons und Wölfe“

Für Naturverbundene klingt es wildromantisch: Weitestgehend unberührt gehören die Wälder des Białowieża-Nationalparks zum letzten Urwald Europas und sind Teil des UNESCO-Weltnaturerbes. Für Menschen, die hier feststecken, ist das feuchte, sumpfige Gebiet allerdings nicht gerade lebensfreundlich. Viele vergiften sich an ihnen unbekannten Pflanzen und Früchten oder am schlechten Wasser, wenn Hunger und Durst unerträglich werden. Im Winter führen eisige Temperaturen schnell zu Unterkühlung und Erfrierungen. Unterschlupfe zum Ausruhen und Aufwärmen gibt es keine, dafür Bisons und Wölfe, berichtet Ana.

Der körperliche und mentale Zustand der Menschen sei meist sehr schlecht, wenn die Helfer*innen sie antreffen. „Sie sind verängstigt. Wir fragen nach ihren Namen und wie es ihnen geht. Wo sind die Familienangehörigen? Manchmal stellt sich heraus, dass die Familie im Wald getrennt wurde“, erzählt Marta Górczyńska. „Natürlich versuchen wir dann zuerst, sie wieder zusammenzubringen, den Mann oder die Kinder zu finden, die irgendwo verloren gegangen sind“. Jede Situation sei sehr unterschiedlich. Manche haben Knochenbrüche oder Fleischwunden vom Überqueren des Grenzzauns, andere allergische Reaktionen von Insektenstichen. Für Kinder ist es ganz besonders schlimm und erschöpfend. Schwangere Frauen erleiden oft eine Fehlgeburt. Sowohl Frauen als auch Männer tragen unterschiedliche Spuren von Gewalt an ihren Körpern – auch die der Vergewaltigung.

Das Leid ist groß in den Grenzwäldern. Von welcher Seite der Grenze mehr Gewalt ausgehe, könne sie nicht beurteilen, so Ana. Doch sie hätten begonnen, Beweise zu sammeln. Auch über die Zahl der Toten ist wenig bekannt. Offiziell sind laut polnischen Behörden bereits rund 20 Menschen im Grenzgebiet gestorben, was angesichts der beschriebenen Bedingungen eher unwahrscheinlich erscheint. Über 200 Menschen seien bereits als vermisst gemeldet, von ihnen fehle jede Spur. Man gehe von eine weitaus höheren Todeszahl aus.

„Der Rassismus der polnischen Regierung spiegelt sich auch in Hilfsmaßnahmen wider“

Wie lange die Menschen in dieser unwirtlichen Umgebung feststecken, ist schwer zu sagen. Manche schaffen es innerhalb von einer Woche von Belarus nach Polen und raus aus dem Grenzgebiet. Andere stecken mehrere Wochen oder Monate allein auf der belarussischen Seite fest oder werden mehrmals zurückgebracht. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Regionen dieser Erde – die Gründe ihrer Flucht sind unterschiedlich. Aber eines haben sie alle gemeinsam, die Hoffnung auf ein sicheres und besseres Leben in Europa.

Und noch eine Gemeinsamkeit beschreibt Ana: „Die Menschen an der belarussischen Grenze sind im Allgemeinen nicht weiß, sondern dunkler. Das ist auch der Grund, warum ihnen im Vergleich zu den ukrainischen Geflüchteten nicht geholfen wird.“ Der Rassismus der polnischen Regierung spiegele sich, so Ana, auch in den Hilfsmaßnahmen wider.

Marta Górczyńska erzählt, dass sie für die gleiche Arbeit und Hilfe an der ukrainischen Grenze gefeiert, für die sie im polnisch-belarussischen Gebiet angefeindet wird. „Wenn ich an die ukrainische Grenze fahre, habe ich das Gefühl, dass die Regierung und Behörden dankbar sind, für das, was ich tue. Sie sind offen, mit mir zu sprechen und meinen Rat einzuholen, wenn sie ihn brauchen. Ich verstehe nicht, warum ich an der belarussischen Grenze nicht dasselbe tun kann. Das ist absurd, weil ich die Menschen mit korrekten rechtlichen Informationen versorge und versuche, Leben zu retten.“

„An Wunder glaube ich nicht“

Derzeit versuchen Ana und Marta Górczyńska sowie andere Helfer*innen der Gurpa Granica, sich auf den Winter vorzubereiten. Sie wüssten aus den Erfahrungen des letzten Winters bereits, was es braucht. Allerdings seien sie auf finanzielle Unterstützung angewiesen. „Bald sind unsere derzeitigen Ressourcen und Mittel aufgebraucht“, berichtet Ana. Marta Górczyńska betont daher, wie wichtig die Unterstützung von größeren und erfahrenen Hilfsorganisationen wäre.

Ana glaubt jedoch nicht mehr daran, dass sie kommen. „Sie hätten schon letztes Jahr kommen sollen. An Wunder glaube ich nicht. Wir haben an sie appelliert zu kommen oder uns zumindest materiell oder finanziell zu unterstützen. Bis jetzt ist nichts geschehen.“ Über die Gründe könne sie nur spekulieren, wahrscheinlich sind es politische. Eine Anfrage an das Polnische Rote Kreuz für diesen Artikel blieb unbeantwortet.

Obwohl die Arbeit sehr kräftezehrend sei, werde sie nicht aufhören, sich für die Menschen in der Grenzregion einzusetzen, so Ana. „Ich werde helfen, solange es Menschen gibt, die Hilfe brauchen und solange ich kann, körperlich und geistig. Es sei denn, ich verliere den Verstand.“

 

*Ana möchte anonym bleiben, weshalb ihr richtiger Name hier nicht genannt wird.

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Louisa lebt und arbeitet in Hamburg. Neben der Frage, was Gruppen vulnerabler oder widerstandsfähiger macht als andere, der sie sich auch beruflich widmet, fragt und wundert sie sich immer wieder, was Grenzen und damit verbunden „Ausgrenzung“ bedeuten – gesellschaftlich, geopolitisch, kulturell. „kohero schafft und lebt einen Kontext, der Grenzen – als Gegenpole zum interkulturellen Zusammenleben – permanent hinterfragt, im positiven Sinn überschreitet und dies vielschichtig in den öffentlichen Diskurs einbringt. Daran möchte ich mich beteiligen.“

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