Eine Kosmopolitin reist um die Welt – und zu sich selbst

Özge A. ist in der Türkei aufgewachsen und konnte im Erasmus ihre ersten Auslandserfahrungen sammeln, die sie verändert haben. War sie in ihrer Jugend von einem konservativen Umfeld geprägt, lebt sie heute liberal. Die Distanz zu ihrem Heimatland hat sie zu ihrer wahren Natur gebracht: Kosmopolitin. Heute hat sie eine ganz andere Sichtweise bezüglich der Frauenrolle sowie dem Lebenssinn und betreibt eine eigene Webseite, auf der sie Tipps zu Städtereisen gibt. Beruflich integriert sie als Willkommenslotsin Flüchtlinge in den Garten- und Landschaftsbau. Im Interview verrät Özge uns ihren großen Traum und was sie über die Frauenrolle denkt. Die Redaktion findet: Wir brauchen mehr solcher Heldinnen.

Wie bist du nach Deutschland gekommen?

Über das Erasmus-Programm war ich in Deutschland, um mich ins Dolmetschen von Türkisch-Deutsch zu vertiefen. Der Kontakt mit so vielen Kulturen hat für mich eine ganz andere Sache vertieft: Mich selbst. Man sagt, auf Reisen finde man sich selbst. Das kann ich bestätigen.

Die Offenheit meiner Kommilitonen hat meinen Horizont erweitert. Daher habe ich mein Masterstudium in Deutschland fortgesetzt und meinen Schwerpunkt auf Entwicklungspolitik gelegt. Ob das bewusste Leben in einem anderen Land eine Flucht ist, werde ich irgendwann herausfinden. Aktuell entdecke ich gern die Welt und finde dabei viel über mich selbst heraus.

Du hast „Flucht“ erwähnt. Wovor fliehst du?

Als Frau in der Türkei bin ich anders aufgewachsen als viele meiner deutschen Kolleginnen. In meinem Umfeld habe ich viel Konservatives miterlebt und empfinde auch die heutige Türkei in Relation zu den EU-Ländern als konservativ. Bereits in meiner Jugend war es für Frauen normal, abends nicht lange wegzubleiben und dass sie kaum eine Stimme hatten.

Wird eine Frau sexuell belästigt, hieß es, sie sei selber schuld – immerhin trage sie diese aufreizenden Kleider. Meine Mitschülerin wurde im betrunkenen Zustand sogar vergewaltigt. Glaubt man wirklich, eine Frau steht auf sowas? Der Höhepunkt ist noch: Wird eine Frau vergewaltigt, rettet man ihre Ehre, indem man sie mit dem Vergewaltiger verheiratet. Mit keinem gesunden Menschenverstand ist das zu verstehen.

Zudem ist Sex ein Tabuthema und es fehlt hier an Aufklärung. Glücklicherweise haben meine Eltern eine sehr moderne Einstellung und haben mich in allen meinen Lebensplänen unterstützt. Nur mit ihrer Hilfe habe ich mich im Ausland selbst besser kennenlernen können und das tägliche Telefonat mit ihnen gehört für mich dazu. In Deutschland fühle ich mich beruflich sowie privat von Männern und Frauen ernst genommen. Ich fliehe also in ein selbstbestimmtes Leben mit mehr Gerechtigkeitsempfinden für mich selbst.

Das klingt schon sehr politisch. Wie ist deine Meinung über Politik?

Atatürk hat die Türkei auf einen richtigen Weg gebracht und die Frauenrolle revolutioniert. Warum seine Visionen sich nicht durchgesetzt haben? Ich denke, die Türkei war damals noch nicht bereit für seine modernen Sichtweisen und sein Tempo war zu schnell für das Land. Reformen brauchen wohl mehr Zeit – vor allem mit einer so konservativen Religion.

Seltsamerweise geht das Kaputtmachen viel schneller und Erdogan hat leider viel Gutes zunichte gemacht. Hätte ich mich für ein Leben in der Türkei entschieden, hätte ich zwar Karriere gemacht, aber leider auch einfach in den Tag hinein gelebt: Arbeit, Familie und zwischendurch vermutlich viel Fernsehen. Als Kosmopolitin fühle ich mich frei und entdecke neue Sachen.

Die Gedanken machen uns neugierig über dich: Was liest du gern und welche Einstellung treibt dich an? 

Kafka fasziniert mich. Die Themen, wie psychische und gesellschaftliche Thematiken, interessieren mich sehr und es macht mir Spaß, in seine Traumwelt einzutauchen. In einige Charaktere kann ich mich sehr gut hineinversetzen und fühle mich verstanden.

Was mich antreibt? Das ist die Entdeckungslust. Diese teile ich auf meiner Seite lethejourneybegin. Mein Plan ist es, die ganze Welt zu bereisen. Zuerst fange ich mit Europa an. Hierfür habe ich mich stark selbst hinterfragt. Ich mache einen sinnvollen Job und frage mich trotzdem: War das alles?

Dann habe ich das Reisen für mich entdeckt. Ich reise alleine und habe herausgefunden, dass Angst das Schlimmste ist, was einem im Leben widerfährt. Viele Menschen haben beispielsweise Angst vor dem Alleinsein. Lässt man diese Angst zu, macht man sich abhängig und passt sich der Gesellschaft an. Früher hatte ich auch noch Angst. Das Reisen hat mir aber gezeigt, dass ich wenig brauche, auch allein zufrieden bin und für mein persönliches Glück folgendes brauche: Offenheit und Entdeckungslust.

Dieses Interview wurde mit Moaayad und Thing im Schreibtandem-Projekt geschrieben.

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