Für den Sujet-Verlag, der in Abgrenzung zum eher negativ konnotierten Begriff der Exilliteratur von „Luftwurzelliteratur“ spricht, passt diese vielschichtige Erinnerung an Schmerz und Heilung gut ins Programm. Luftwurzeln bleiben nicht an Grenzen verhaftet, sondern wachsen über sie hinaus. Sie verankern sich nicht nur an einem Ort, bleiben beweglich, lebendig und reagieren auf ihre Umwelt. Auch Menschen schlagen Luftwurzeln. Sie reisen, wandern aus, flüchten. Sie lassen ihre Heimat hinter sich und finden eine neue.
Madjid Mohit, der aus einer iranischen Verleger-Familie stammt, ist 1990 als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen. Er hat den Verlag in Bremen gegründet. Bei dem Buchmesse-Interview formulierte er noch eine weitere Beschreibung für die Literatur, die ihm am Herzen liegt: Luftwurzeln finden ihre Nahrung in der Erde wie in der Luft.
Trauerbewältigung mit der Kraft der Fantasie
Ein solches Schreiben und Denken auf mehreren Ebenen ist auch bei „Das lila Mädchen“, geschrieben von Ibtisam Barakat, zu erkennen: Im Mittelpunkt steht dort – inspiriert von der Lebensgeschichte der palästinensischen Künstlerin Tamam Al-Akhal (geb. 1935) – ein Mädchen, das davon träumt, in ihre palästinensische Heimat zurückzukehren. Tamam hat schon früh für sich entdeckt, dass sie talentiert im Zeichnen ist. Die damit verbundene Kraft der Fantasie erweist sich in der Bewältigung ihrer Trauer als etwas sehr Kostbares. Sie beginnt, das verlorene Zuhause mit ihrer Fantasie zu malen. Und sieht sich bald nachts an die Tür des verlassenen Hauses klopfen.
Das Mädchen aber, das sie dort vorfindet, versperrt ihr den Zugang. In ihrem Kummer werden die Tränen zu Farben. Die fließen nun fort von dem versperrten Haus und lassen auf dem Papier etwas Neues entstehen.
Ihr Thema ist die Menschlichkeit
Einfühlsam drückt die Autorin vor dem Hintergrund eigener Erlebnisse aus, was viele Palästinenser*innen (und andere Menschen mit Fluchterfahrungen), die nicht in ihre Heimat zurückkehren dürfen, auf vielfältige Weise empfinden. Als zentrale Figur gelingt es dem Mädchen in der Geschichte, die Besatzungsmächte durch ihre Sehnsucht zu entmachten. Symbolisch manifestiert sich das hier durch die Kraft von Imagination und künstlerischem Ausdruck.
Manche werden erkennen, dass die Nakba, d.h. die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinenser*innen im Jahr 1948, den historischen Hintergrund für die Geschichte bildet. Aber mehr noch ist es für Ibtisam Barakat wichtig, dass sich ihr Buch nicht allein auf diesen historischen Kontext bezieht.
Ihr Thema ist die Menschlichkeit. Es geht ihr um die Frage, wie innere Heilung geschehen kann, wenn Menschen – überall auf der Welt – als Vertriebene und Fliehende ihr Zuhause verlassen müssen. Sie versteht die darin beschriebenen Schmerzen wie auch die heilenden Momente als repräsentativ für die Erfahrungen von Millionen von Geflohenen. Damals wie heute.
Eine universale Geschichte von Verlust und Heilung
In diesem Sinne erzählt sie eine universale Geschichte, auch wenn der Atem, den sie beim Schreiben in die Worte hat einfließen lassen, deutlich von ihrer eigenen Biografie herrührt.
Universal ist die Geschichte auch hinsichtlich der Adressat*innen. Für Ibtisam Barakat und den Illustrator Sinan Hallak lassen sich in dem Buch auf der Text- wie Bildebene mehrere Schichten entdecken. Jüngere Kinder wie auch Jugendliche und Erwachsenen können mit ihren jeweils anderen Erfahrungen auf verschiedenen Wegen einen Zugang dazu finden.