Ein Mann, vor kurzem nach Deutschland geflüchtet und ohne große Deutschkenntnisse, muss am Bein operiert werden. Die Operation verläuft ohne Probleme und er wird wieder entlassen. Zwei Monate vergehen und seine Beschwerden verschlimmern sich wieder. Als er kaum noch laufen kann, wird er zu einem Facharzt geschickt. Diesmal begleitet ihn die Dolmetscherin Hazar Tammo. Sie erinnert sich noch ganz genau an den Arztbesuch: „Nur nach wenigen Minuten hat sich herausgestellt: Der Patient wusste nicht, dass er nach der OP unbedingt Physiotherapie machen muss. Der Arzt war schockiert und fragte: Warum hat Ihnen das denn niemand erklärt?“
Diese Situation zeigt beispielhaft, wie unglaublich schnell es dazu kommen kann, dass geflüchtete Patient*innen leiden müssen. Oft fehlt ihnen einfach eine wichtige Information. Dabei handelt es sich bei weitem nicht um einen Einzelfall oder um das Schlimmste, was passieren kann, wenn sich nicht-deutschsprachige Patient*innen heillos überfordert in den vielen Rädchen des deutschen Gesundheitssystems verirren. Fakt ist, das jede*r Asylsuchende in Deutschland Anrecht auf medizinische Versorgung bei akuter Erkrankung hat. Doch in der Realität wird der Zugang zu diesen Behandlungen nicht nur durch eine Sprachbarriere erschwert. Auch zahlreiche bürokratische Hürden, mangelnde interkulturelle Kompetenzen des medizinischen Personals oder schlichtweg die immer präsent scheinende Zeitnot vergrößern das Problem.
Das Tandem-Modell
Die 2015 von Medizinstudierenden gegründete Medizinische Flüchtlingshilfe Düsseldorf (Medidus) hat es sich zum Ziel gemacht, genau diese Hürden für Geflüchtete abzubauen. Der Kern der Initiative ist das Tandem-Projekt: Ein Team aus einer dolmetschenden Person und einer*m Medizinstudierenden begleiten Geflüchtete zu ihrem Arztbesuch. Während die oder der Dolmetscher*in, wie gewohnt, dafür zuständig ist, das Arztgespräch zu übersetzen, soll die oder der Medizinstudierende als vermittelndes Bindeglied zwischen Patient*in und Gesundheitssystem fungieren.
Die 25-jährige Medizinstudentin Enid Graeber engagiert sich seit 2017 bei Medidus und hat schon mehrere solcher Arztbegleitungen mitgemacht. Sie erklärt: „Medizinstudierende können sehr gut eine vermittelnde Position einnehmen. Es soll nicht nur die sprachliche Barriere überwunden werden, sondern auch die wissenschaftliche Barriere. Selbst wir deutschsprachigen verstehen ja nicht unbedingt immer, was in den Arztbriefen steht.“
„Du bist hier falsch“ – eine Krankenhaus-Odyssee für Geflüchtete
Die Idee zu dem Tandem-Modell kam einer Gruppe Medizinstudierender der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf, als sie 2015 während ihrer Praxiseinsätze im Krankenhaus ein totales Chaos miterlebten. Damals waren die Flüchtlingsunterkünfte total überfordert. Es kamen immer mehr Neuankömmlinge, die versorgt werden mussten. Enid Graeber weiß: „Viele Geflüchtete kommen hier an und haben gesundheitliche Probleme. Seien es körperliche Beschwerden, die vielleicht sogar mit Grund für ihre Flucht waren, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr die notwendige medizinische Versorgung bekommen haben. Oder eben auch psychische Erkrankungen, die allein schon durch die Flucht bedingt sind.“
Egal mit welchem Problem, 2015 landeten die meisten Asylsuchenden erst einmal in der Notaufnahme. Dort trafen sie jedoch nur auf überlastetes Krankenhauspersonal und den Satz: „Du bist hier falsch“. Die Medizinstudierenden erlebten oft mit, wie die Geflüchteten immer nur von einem zum nächsten Ort geschickt wurden, ohne bei der Hilfe anzukommen, die sie brauchten. Hannah Pohlen, die als Projektkoordinatorin für Medidus arbeitet, erklärt: „Das Gesundheitssystem, das wir haben, ist ein super gutes System, wenn man hier integriert ist, wenn man das System verstanden hat. Aber viele Menschen haben überhaupt gar keinen Zugang zu diesem System.“ Und genau diesen Zugang will Medidus schaffen.
Wie funktioniert das?
Das Projekt der medizinischen Flüchtlingshilfe Düsseldorf setzt dort an, wo das Chaos 2015 oft seinen Ursprung fand: In den Asylunterkünften. In Zusammenarbeit mit den Sozialarbeiter*innen der Unterkünfte werden die Geflüchteten bei gesundheitlichen Beschwerden direkt an die passenden Arztpraxen vermittelt und bei Medidus für eine Begleitung angemeldet. Die sich ehrenamtlich engagierenden Medizinstudierenden, sowie Dolmetscher*innen können sich über die eigens dafür entwickelte Medidus-App für einen der Termine anmelden.
Nach vorheriger telefonischer Absprache trifft Das Dreier-Gespann dann vor der Praxis das erste Mal aufeinander. Während die dolmetschende Person das Arztgespräch übersetzt, soll die oder der Medizinstudierende hauptsächlich aufmerksam zuhören. Vor und nach dem Termin ist die Zeit, in der die Medizinstudierenden aktiv werden können: Offene Fragen klären, das weitere Vorgehen besprechen oder Folgetermine ausmachen. Wie die Hilfe der Medizinstudierenden konkret aussieht, ist jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich.
„Wenn sie mitkommen, dann wird’s gut!“
Der 37-jährige Informatikstudent und ehrenamtliche Dolmetscher Sina Shahavi empfindet die Medizinstudierenden als eine riesige Erleichterung. Der aus dem Iran stammende Kurde dolmetscht seit September 2020 ehrenamtlich bei Medidus und möchte somit den Menschen helfen, die heute dort stehen, wo auch er mal vor vier Jahren in Deutschland angefangen hat. Aufgrund der Corona-Bestimmung musste er schon viele Arztbegleitungen alleine machen, doch dreimal durften ihn Medizinstudierende zum Termin begleiten. Sein persönliches Fazit: „Wenn sie mitkommen, dann wird’s gut!“.
Als Nicht-Mediziner kennt er nicht immer alle medizinischen Fachvokabeln. Da hilft es ihm sehr, wenn er weiß, dass er nach dem Gespräch noch die Möglichkeit hat, einzelne Wörter oder Abläufe mit der*m Medizinstudierenden abzuklären. „Man weiß die Zeit ist knapp und man will den Arzt nicht ständig unterbrechen. Dann kann ich mich zwischendrin zum Medizinstudenten drehen und ihm ein Zeichen geben, dass ich ein bestimmtes Wort nochmal später nachfragen möchte“
Gesundheit – ein emotionales Thema
Doch nicht nur bei Fachvokabular können die Medizinstudierenden aushelfen. Vor allem im Zwischenmenschlichen können sie sehr viel bewirken. Gesundheit ist ein emotionales Thema. Und in einem fremden Land auf einer fremden Sprache und oft auch ohne Familie und Freunde sind Geflüchtete bei einer schweren Diagnose psychisch nochmal stärker belastet.
Die 24 -jährige Kurdin Hazar Tammo engagiert sich mit großer Leidenschaft als Dolmetscherin bei Medidus. Doch wenn sie den Patient*innen schlechte Nachrichten überbringen muss, macht sie das immer sehr traurig. Der Pharmazie-Studentin ist es wichtig, den Patient*innen Mut zu machen und die Diagnose so schön wie möglich zu verpacken.
In diesen Situationen sind die Dolmetschenden häufig die Hauptbezugsperson für die sorgenerfüllten Patient*innen. Eine Position, die sehr belastend und überfordernd sein kann. Wenn hier Medizinstudierende mitkommen, kann dies eine riesige Entlastung für Dolmetschende sowie Patient*innen bedeuten. Mit ihrem Fachwissen sind sie perfekt dafür geeignet, mit detaillierten Erklärungen beruhigend auf die Patient*innen einzuwirken. Enid Graeber weiß aus Erfahrung: „Oft ist die Begleitung viel mehr als nur die reine Vermittlung von Informationen. Die Geflüchteten sind vor allem dankbar für das Gefühl, nicht alleine zu sein.“
Ein ganz besonderer Uni-Kurs
Doch auch für die Medizinstudierenden ist es keine leichte Aufgabe in belastenden Situationen als emotionale Stütze zu dienen. Auch sie müssen erst einmal lernen, wie man am besten sensible Information kommuniziert. Und vor allem auch, wie man sich selbst dabei schützt. Deswegen wurde das Projekt nach ein paar erfolgreichen Proberunden an die Fachschaft Medizin der Heinrich-Heine-Universität angebunden. Und es bekam sein eigens darauf abgestimmtes Wahlfach: »Medizinische Versorgung von geflüchteten Menschen«.
Pro Semester können 20 Medizinstudierende den Kurs belegen. In der ersten Phase des Seminars werden die Teilnehmer*innen für den Umgang mit geflüchteten Patienten*innen geschult und auf ihre Rolle während der Begleitungen vorbereitet. Daraufhin sollen die Medizinstudierenden sich für drei Begleitungen anmelden. So kann das Wahlfach dazu beitragen, dass eine Mindestanzahl von 120 Arztbegleitungen pro Jahr gemacht wird. Abgeschlossen wird das Seminar mit einer Reflexionsphase, in der die Begleitungen im persönlichen Gespräch mit Ärzt*innen oder Psycholog*innen reflektiert und aufgearbeitet werden.
In diesem ganz besonderen Uni-kurs, kommen die Medizinstudierenden vom Vorlesesaal direkt in die echte Arbeitswelt, in der sie die Probleme und Sorgen von geflüchteten Patient*innen hautnah miterleben. Eine Erfahrung, die oft auch einen Perspektivwechsel mit sich bringt. „Viele Studierende berichten in ihrem Reflexionsbericht, dass sich ihr Blick auf ihren zukünftigen Beruf stark verändert hat“, erzählt Enid Graeber. „In Zukunft werden sie sich dann als Ärzt*in vielleicht einfach bewusst mehr Zeit für die Behandlung von Geflüchteten nehmen.“
Nachhaltiger Wandel im Gesundheitssystem
Ein Umdenken schaffen. Genau darum geht es Medidus. Nicht nur die Symptome eines von Zeitnot getriebenen Gesundheitssystems behandeln, sondern die Probleme an der Wurzel packen. Deswegen hat Medidus weitere Wahlfächer ins Leben gerufen, die die interkulturellen Kompetenzen von Medizinstudierenden schulen. »Interkulturelle Kompetenzen und Grundlagen in Arabisch für Mediziner*innen« und »Gesundheitsakte für Ausländische Mitbürger*innen« gehören dazu.
Mit diesen Lehrangeboten schließt Medidus eine große Lücke im Medizinstudium, erklärt Hannah Pohlen: „Bisher gab es an der Heinrich-Heine-Universität kein anderes Angebot, um im Medizinstudium interkulturelle Kompetenzen zu erwerben. Doch unsere Gesellschaft wird immer diverser. Wenn wir jetzt Medizinstudierende dafür sensibilisieren, können sie in ihrem zukünftigen Arbeitsleben vielen der heutigen Probleme entgegenwirken.“
Es ist noch viel zu tun
Das Konzept geht auf. Medizinstudierende, die an dem ersten Wahlfach teilnehmen und Begleitungen mitmachen, engagieren sich danach oft auch noch freiwillig in der Organisationsarbeit von Medidus oder belegen weitere ihrer Seminare. Denn Medidus ist mehr als nur ein Hilfsprojekt. Es ist vor allem auch eine Community. Menschen aus den verschiedensten Fachbereichen und Lebenswelten kommen hier zusammen. Sie tauschen sich aus, unterstützen sich gegenseitig und arbeiten zusammen für eine gerechtere Zukunft.
Und es gibt noch viel zu tun. Corona hat das nochmal besonders deutlich gemacht. Ob psychische Erkrankungen durch die extreme Isolation in den Asylunterkünften oder mangelnde Aufklärung über das Virus und das Impfangebot – Geflüchtete sind von der Krisensituation besonders betroffen. Deswegen heißt es für Medidus: Größer werden, sich deutschlandweit vernetzen und immer wieder neue Ideen und Lösungswege entwickeln – so, wie die von ihnen nun neu entwickelten mehrsprachigen Informationsbögen zum Coronavirus. Damit Geflüchtete in Zukunft auch die Hilfe bekommen, die ihnen zusteht.