Zeit für Märchen

Seit Kriegsbeginn sind viele Kinder aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Wie auch in der Ukraine, aufgeteilt nach Westen und Osten, sprechen sie Ukrainisch oder Russisch. Für sie wollte ich Märchen erzählen.

Unser Land, die Sowjetunion, bestand aus 15 Republiken, die alle die gleichen Rechte hatten. Dort wohnten verschiedenen Völker: Russ*innen, Ukrainer*inne, Belaruss*innen, Usbek*innen, Kasach*innen, Georgier*innen, Litauer*innen und viele mehr. Bukwar, mein erstes Buch. Und das Buch vieler Kinder, die in der Sowjetunion groß geworden sind. Mit diesem Buch, meins war auf Ukrainisch, habe ich Lesen gelernt. Wir sind mit den gleichen Märchen aufgewachsen. Für westlichere Familien war es wie ein rotes Tuch. Ganz unbekannt. Meine Oma hat Märchen erzählt, aber jetzt verstehe ich, dass es nicht die Märchen der Brüder Grimm waren. Es waren Kriegsmärchen. In ihren Geschichten brannte es, sie musste wegrennen.

 

Seit Kriegsbeginn sind viele Kinder aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Wie auch in der Ukraine, aufgeteilt nach Westen und Osten, sprechen sie Ukrainisch oder Russisch. Für sie wollte ich Märchen erzählen. Ein 6-jähriges Kind aus Mariupol, das jetzt in Hamburg ist, nimmt sich mein Mikrofon. Er erzählt kein Märchen, sondern von einer Realität, die schlimmer als ein Horrorfilm ist. Krieg klaut nicht nur Träume, er klaut die Kindheit. Erwachsene fragen oft, ob Volksmärchen nicht zu gruselig für Kinder sind. Auf der anderen Seite sehe ich ständig Kinder, die schon im Kinderwagen ein Handy in der Hand haben. Alles ist digital – auch Krieg. Er ist laut und präsent. Eine Märchenstimme dagegen ist ganz leise und wird kaum wahrgenommen. 

 

“Volksmärchen werden seit Jahrhunderten weitererzählt. Es sind vertraute Geschichten. Sie erzählen von uns, von kleinen und großen Menschen, von unseren Sorgen und Nöten. Immer gibt es Probleme im Leben, aber es gibt auch Helfer oder Helferinnen: alte, weise Frauen oder Männer, die zuweilen in der Gestalt von Feen, Riesen oder Tieren erscheinen. Natürlich zeigt sich auch das Böse, das Unheimliche in der Gestalt von Hexen, Zwergen, Riesen. Am Ende geht es aber immer gut aus, es finden sich neue Wege, das Leben geht weiter. Eine Voraussetzung gibt es aber für den Wandel zum Guten: Man muss sich auf den Weg machen, nicht untätig bleiben. Das ist eine Botschaft der Märchen”, sagt Hanna Margarete Schilling, Mitglied im Vorstand des Märchenforums Hamburg e.V., “in jedem Lebensalter tut es gut, diese Geschichten zu erzählen oder sie vorzulesen – sowohl den Erzähler*innen als auch den Zuhörer*innen. ,Und weil sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute’: die Märchen der Brüder Grimm, die Märchen aus aller Welt.”

 

In der Ostukraine leben schon lange Kinder, die nicht mehr an Märchen glauben. Sie hören nicht die Stimme ihrer Eltern, sondern die Raketen. Anhand von Märchen wird ihnen erzählt, wie sie sich ducken müssen und die Hände über die Ohren drücken müssen, wenn Raketen fallen. Da ist keine Magie. In Russland handeln die Märchen von Vätern, die zu Kriegshelden werden. Der Krieg dauert schon neun Jahre, nicht erst eins. 

 

Ich habe letztens ein Foto von einer Demonstration für die Ukraine gesehen. Darauf war ein strahlendes Kind, das ein Schild hochgehalten hat: “Wir brauchen mehr Leoparden.” Kinder brauchen keine Leoparden, denke ich. Sie brauchen eine Kindheit. Mut, um Böses zu besiegen, egal um welchen Preis. Im Märchen gewinnen Hoffnung, das Gute und die Wahrheit. 

Wir brauchen mehr Zeit für Märchen! Am 29.01.2023 hat das 14. Märchenfest im Märchenforum Hamburg stattgefunden. Weitere Infos hier: Programm

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Autorengruppe
Yuliia (Marushka) studierte Journalismus und Waldorfpädagogik (sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland). Das Lebensziel, eine Waldorfschule in ihrer Heimatstadt zu gründen, führte Marushka 2012 nach Deutschland und sie konnte diesen erfolgreich 2020 erfüllen. In der Ukraine war sie zuvor als Radiomoderatorin tätig. Die Maidan Revolution führte sie zum Aktivismus, den sie durch Kunst ausführt. In Hamburg ist sie nun als freie Künstlerin, Autorin und Märchenerzählerin (Mäuschen Marushka) unterwegs.  „Die Frage: ‚Bist du geflüchtet?‘ hat mich persönlich mitgenommen. Deshalb arbeite ich bei kohero. Es ist an der Zeit, ukrainische Stimmen wahrzunehmen.“

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