Demokratie-Kultur auf dem Prüfstand

Wir stehen bei Fragen zu Klimawandel, Migration und Integration derzeit inmitten von Aushandlungs-Prozessen, die für die Zukunft Europas von großer Bedeutung sein werden.  Verdrängung und Gleichgültigkeit sind  keine Alternativen angesichts der enormen globalen Herausforderungen, die keinen Aufschub dulden. Wie also kann es gelingen, echte Chancen für einen Wandel auf mehreren Ebenen zu erkennen und zu nutzen? Und welche Rolle spielen dabei Integration und Identität?  Ein Denk-Anstoß.

Foto Ryan Parker via Unsplash unter CC BY-SA 3.0-Lizenz.

Seit einigen Jahren wird viel über den gesellschaftlichen Zusammenhalt diskutiert. Dies hängt natürlich mit verschiedenen Entwicklungen der jüngeren Zeit zusammen. Themen wie z.B. Migrationsbewegungen, die Klimakatastrophe,  die Desintegrations-Prozesse Europas und auch der vieldiskutierte Rechtsruck stellen nur einige wenige Komplexe dar, die das Leben und die Identität des Kontinents auf die Probe stellen.

Selten war das Politische in den gesellschaftlichen Debatten so präsent. Und selten wird so emotional und vehement über die Richtigkeit der eigenen Ideen und über die Zukunft des sogenannten europäischen „Kontinents“ gestritten. Der politische Streit, so scheint es, ist eine alltägliche Erscheinung, die uns überall begegnet und aus der es kaum eine Fluchtmöglichkeit gibt.

Verdrängung, die einfachste und grausamste Methode, scheint insbesondere im Zuge der kommenden Klimakatastrophe, keine Alternative mehr zu sein. Und so sind wir in eine sozialpolitische Situation geraten, aus der es scheinbar nur zwei extreme Auswege gibt. Das sind, idealtypisch gesprochen, die tatsächliche Auseinandersetzung mit politischen Realitäten oder die vollkommene Gleichgültigkeit und damit die Akzeptanz der Unlösbarkeit der Probleme.

Wie man sich auch entscheiden wird – in dem jetzigen Zeitgeschehen scheint eines deutlich zu werden. Nämlich: Die Welt entwickelt sich schneller, als wir es wahr haben wollen. Und wir als Menschen sind nicht so klug und agil, wie es in dieser globalen Situation nötig wäre.

Bedürfnis nach Entschleunigung

So ist es nahezu natürlich, dass sich im Angesicht der Beschleunigung der Entwicklungen unserer Zeit das Bedürfnis nach Entschleunigung, eines Stillstandes oder einer Rückkehr zum Gestrigen hineinschleicht. Eingebettet in bestehende rassistische und kulturchauvinistische Denkmuster haben diese Bedürfnisse das Potential, das gesamte europäische und pluralistische Gefüge zu sprengen.

Kommt noch eine progressive Liberale dazu, die aus der Schockstarre der kontinuierlichen und wiederholten Empörung nicht herausfindet und keine alltägliche Praxis des solidarischen, sozialen und ökologischen Handelns herausarbeitet, dann besteht die Gefahr einer Abwärts-Spirale der gesellschaftlichen und menschlichen Verrohung.  In dieser erscheint aktives demokratisches Agieren am Ende unmöglich. Irrationale Wut und verletzte Traumata bestimmen schließlich die Normalität.

Potential von zukunftsweisenden Initiativen

Innerhalb dieser Gemengelage von Risiken sehen wir aber auch ein interessantes Potential von zukunftsweisenden neuen Bündnissen und Initiativen, welche hoffentlich weiterhin den öffentlichen Diskurs bestimmen werden. Von den Kämpfer*innen für das Klima, gegen Rassismus, für Feminismus, Selbstbestimmung, Diversität und Pluralismus gehen entscheidende Ideen für unsere Zukunft aus. Ob sie sich als nachhaltig erweisen und langfristig genügend Unterstützer*innen auf allen Ebenen aufweisen werden,  wird sich noch zeigen müssen. Und ob sie auch das Potential haben, erstarrte Denkmuster aufzusprengen, ebenfalls.

Es scheint, dass wir inmitten von Aushandlungs-Prozessen sind, welche die Zukunft und das Wesen Europas bestimmen. Dabei sind nicht nur die Themen-Komplexe interessant, sondern auch die  Art und Weise, wie wir mit diesen Dingen umgehen. Es geht um nicht weniger, als um unsere Demokratie-Kultur, die auf den Prüfstand gestellt wird.

Stress und Handlungs-Spielräume ungleich verteilt

In dieser uneindeutigen Situation, in der wir uns als Gesellschaft befinden, geht enormen Druck auf alle Beteiligten aus. Die Verteilung des Drucks und des Stresses scheint aber nicht gleich verteilt zu sein. Denn, wie immer, haben Menschen mit den wenigsten Ressourcen die größten Herausforderungen zu meistern. Die Generation unserer Kinder und der „Noch-Nicht-Geborenen“ haben kein wirkliches Mitspracherecht. Menschen am Rande der Armut haben kaum Handlungs-Spielraum zur wirklichen Veränderung.

Aktuell Geflüchtete und Menschen mit unklarem Aufenthaltsstatus müssen neben der Verarbeitung ihrer momentanen Situation mit einem zusätzlichen „Integrations“-druck leben. Eine „Integration“ in ein System, das oft Sicherheit, Eindeutigkeit und Klarheit verspricht, in vielerlei Hinsicht aber die eigenen Versprechungen nicht einhalten kann.

Und so herrscht von vielen Milieus eine unterschiedlich verteilte Überforderung an der eigenen ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen, sozial-emotionalen und kulturellen Wirklichkeit. Die Art und Weise, wie wir mit dieser Überforderung umgehen, wird aber das Wesen Europas langfristig und  nachhaltig verändern.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Dan Thy Nguyen
417.000 Menschen …sind wohnungs- oder obdachlos (laut Schätzungen der BAG W, 2020). Nur Menschen in sozialen Noteinrichtungen wurden in die Schätzungen einbezogen. Es fehlen also Menschen, die wohnungslos sind und keine Hilfsangebote aufsuchen. Die realen Zahlen sind also deutlich höher. Ab 2022 will die Regierung die Zahlen in einem Wohnungslosenbericht erfassen. Die Worte „obdach-“ und „wohnungslos“ bedeuten nicht das Gleiche Wohnungslosigkeit ist der übergeordnete Begriff, Obdachlosigkeit ist dagegen eine Art der Wohnungslosigkeit. Zahl der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten sinkt Die Zahl liegt bei ca. 161.000 Menschen. (Jahresgesamtzahl). Von 2018 bis 2020 konnte ein Rückgang der Wohnungslosigkeit anerkannter Geflüchteter von 64 Prozent festgestellt werden. Laut BAG W sei dieser Rückgang mit dem Rückgang der aufgenommen Geflüchteten seit 2017 erklärbar. Wohnungslosigkeit, Migration und Rassismus können zusammenhängen Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte werden bei der Wohnungssuche diskriminiert – wegen ihres Namens, ihres Aussehen und/oder Staatsangehörigkeit. Außerdem haben sie einen schlechteren Zugang zum Arbeitsmarkt und dadurch schlechtere Chancen auf dem Wohnungsmarkt. Zahl der wohnungslosen Menschen steigt Die Anzahl der Wohnungslosen im Wohnungslosensektor (alle Betroffene exklusive Geflüchtete) ist nach Schätzung der BAG W von 237.000 (2018) auf 256.000 (2020) gestiegen, insgesamt um 8 Prozent. Da viele Hilfsangebote coronabedingt schließen mussten, ist die tatsächlich Zahl der wohnungslosen Menschen vermutlich höher. Anteil wohnungsloser Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit steigt 2009 hatten 70% der wohungslosen Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit. 2018 lag der Anteil bei 36%. Diese Zunahme an wohnungslosen Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit ist durch die steigenden Zahlen von Geflüchteten bedingt. Männer sind besonders häufig von Wohnungslosigkeit betroffen Laut der Befragung obdachloser, auf der Straße lebender Menschen und wohnungsloser, öffentlich-rechtlich untergebrachter Haushalte in Hamburg waren 2018 1.057 Männer, 251 Frauen und sieben nicht-binäre Menschen wohnungslos. Besonders hoch ist der Anteil obdachloser Menschen aus Osteuropa In Hamburg lag 2018 der größte Anteil obdachloser Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit mit 62% bei

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