Frau Ahmadi, Sie machen als Aktivistin und Anwältin auf die Krise in Afghanistan aufmerksam und prangern auf Social Media, auf Demos und in vielen Interviews die Menschenrechtsverletzungen der Taliban an. Dabei werfen Sie vor allem ein Licht auf die Unterdrückung der Frauen im Land. Wieso ist es so wichtig, dass wir in Deutschland Afghanistan nicht aus dem Blick verlieren?
Ich möchte den afghanischen Frauen und Mädchen eine Stimme geben. Die afghanischen Frauen haben verdient, dass man ihre Stimme wahrnimmt, dass man ihnen einen Raum gibt. Durch die Machtergreifung der Taliban wurden die Frauen ins Mittelalter katapultiert, so dass sie überhaupt keine Möglichkeit haben, sich zu äußern – geschweige denn, ihre Rechte auszuüben.
Frauen sollen das Haus nicht verlassen, Mädchen dürfen ab der sechsten Klasse die Schule nicht mehr besuchen. Universitäten sind für die Frauen geschlossen. Alle diese Grausamkeiten in Afghanistan geben mir das Recht und Anspruch, mich als Anwältin für diese Frauen einzusetzen.
Sie stammen selbst aus Afghanistan. Als sie 17 Jahre alt waren, mussten Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland fliehen. Trotzdem ist Ihre Verbindung in die alte Heimat nie abgerissen. Was berichten Ihre Kontakte in Afghanistan über die Situation im Land?
Die Menschen leben in Angst und Schrecken. Familienmitglieder, die sich offen gegen die Taliban ausgesprochen haben, werden bedroht – Verwandte haben mir berichtet, dass seit Tagen ein bewaffneter Talib vor ihrer Haustür postiert ist. Besonders schwierig ist die Situation für Frauen: Ich stehe zum Beispiel in Kontakt mit zwei Anwältinnen, die sich seit der Machtübernahme der Taliban versteckt halten. Sie sind besonders gefährdet, weil sie nicht verheiratet sind. Das ist ein riesengroßes Problem, weil die Taliban festgesetzt haben, dass man ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen darf.
Durch 40 Jahre Bürgerkrieg sind aber viele Männer gestorben oder geflüchtet, weil sie keine Waffe in der Hand nehmen wollten. Deshalb sind viele Frauen Witwen – unter der Herrschaft der Taliban haben sie keine Möglichkeiten, selbst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und wissen nicht, wie es jetzt für sie weitergehen soll.
Was muss jetzt geschehen, um den Menschen in Afghanistan zu helfen?
Die Taliban haben das Land erobert, wir können sie nicht militärisch abschaffen. Stattdessen sollten wir nach diplomatischen Lösungen suchen. Die Taliban brauchen die Anerkennung des Westens, um den afghanischen Staat wieder aufzubauen und sich als rechtmäßige Regierung zu legitimieren. Der Westen muss die Einhaltung der Menschenrechte als Bedingung für Anerkennung und wirtschaftliche Unterstützung einfordern.
Sie setzen sich zusammen mit Ihrem Bruder Hamid Rahimi, einem ehemaligen Boxweltmeister, auch persönlich für die Menschen im Land ein. Können Sie erklären, was es damit auf sich hat?
Mein Bruder hat 2009 das Projekt Fight4Peace ins Leben gerufen. Unter dem Motto „Bildung und Sport statt Waffen und Krieg“ organisierte er unter anderem Boxkämpfe in Kabul und bildete Jugendliche in dem Sport aus. Dieses Projekt wollen wir in Form einer Denkfabrik erweitern. Sie soll als eine Art Brücke zwischen dem Westen und dem Osten dienen. Wir als Diaspora möchten eine breite zivilgesellschaftliche afghanische Bewegung schaffen. Mit dem Wissen und den Fähigkeiten, die wir überall auf der Welt gesammelt haben, können wir dabei helfen, Afghanistan mit aufzubauen – ich zum Beispiel als Anwältin.
Deutschland und der Westen haben mit ihrem fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan eine Mitschuld für das aktuelle Chaos im Land. Wir hoffen, dass Deutschland nun Verantwortung übernimmt und unsere Mission unterstützt. Falls unsere Sicherheit gewährleistet wird, sind mein Bruder und ich sogar bereit, in Afghanistan vor Ort zu helfen. Vielen Exilafghanen geht es genauso. Eine Freundin hat in Kabul Jura studiert, sie arbeitet jetzt im Auswärtigen Amt und ist bereit, an ihrer ehemaligen Universität Frauen zu unterrichten. Wenn wir auf Augenhöhe mit den Taliban kommunizieren – in ihrer eigenen Sprache – dann kann ich mir gut vorstellen, dass selbst sie in der Lage sein werden, unsere Position zu verstehen.
Ihre Familie gehört zu einer der bekanntesten in der afghanischen Community Hamburgs. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Diaspora wahr?
Jeder von uns ist so schwer davon betroffen, dass wir weder essen noch trinken. Sogar Kinder erzählen mir, dass sie Albträume haben, obwohl sie nie in Afghanistan waren. Sie sind hier in Deutschland geboren und aufgewachsen, sie studieren – und die aktuelle Krise trifft sie trotzdem. Als Diaspora sind wir zweigeteilt. Wir fühlen uns als Teil der deutschen Gesellschaft, Deutschland ist unsere Heimat.
Genauso wichtig sind uns unsere Wurzeln in Afghanistan. Es ist für uns sehr schmerzhaft, dass wir ein so privilegiertes Leben führen, während unsere Verwandten in Afghanistan Hunger leiden. Die Hilflosigkeit tut weh. Als Anwältin habe ich in den letzten Jahren viele Erfolge erreicht. Ich dachte, jetzt könnte etwas Ruhe einkehren. Und plötzlich kamen die Taliban. Das hat mich wirklich aus der Bahn geworfen.
Was ist Ihre Hoffnung für Afghanistan?
Meine Hoffnung sind die afghanischen Frauen. Sie haben 20 Jahre Freiheit erlebt, haben studiert, gearbeitet. Wenn ein Vogel die Freiheit gesehen hat, möchte er nicht mehr im Käfig bleiben. Das heißt, sie werden kämpfen. Das hat man an den afghanischen Frauen gesehen, die auf die Straße gehen. Sie werden sich nicht ohne Widerstand unterdrücken lassen. Mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und der Diaspora kann ich mir gut vorstellen, dass sie demokratische Grundwerte für sich erkämpfen.
Sie setzen sich seit der Machtübernahme der Taliban mit voller Kraft für die Menschen in Afghanistan ein. In einem Interview haben Sie erzählt, dass sie zurzeit nur zwei Stunden pro Nacht schlafen. Die Krise in Afghanistan wird aber zurzeit eher schlimmer, als dass sie besser wird. Was macht das mit Ihnen persönlich?
Ich habe gelernt, mit schweren Schicksalsschlägen umzugehen. Als mein Bruder unschuldig im Gefängnis saß, hat er sich mit einem Sprichwort Mut gemacht: Alles was mich nicht tötet, macht mich nur stark. Mit einem Auge weine ich, aber mit dem anderen Auge lache ich. Ich bekomme sehr viel Unterstützung – auch von Leuten, die zuvor nichts mit Afghanistan zu tun hatten. Das zeigt mir, dass Menschlichkeit noch existiert. Es ist unsere Pflicht, die Augen nicht zu verschließen und Verantwortung zu übernehmen – so bewahren wir unsere Menschlichkeit.
Mehr von Jacqueline Ahmadi könnt ihr in der nächsten Folge von unserem Podcast multivitamin hören!