Herr Alter, wie wird man Rabbiner?
Es gibt unterschiedliche Zugänge zu dieser Tätigkeit. Üblicherweise durchläuft man ein mehrjähriges Studium, an dessen Ende man in das Rabbinat berufen wird. Für mich persönlich war es so, dass ich einen großen Teil meines Lebens säkularisiert aufgewachsen bin. Als ich schon über 30 war, bin ich in Kontakt mit amerikanischen Juden gekommen.
In Frankfurt, meinem damaligen Wohnort, gab es eine Jewish Military Community. Diese war auch offen für Nicht-Amerikaner. Ich bin dort mehr oder weniger einfach mitgenommen worden. All das war ganz anders, als das, was ich bisher kannte. Es hat auf mich einen sehr intensiven, positiven Eindruck gemacht.
Dort habe ich dann auch zum ersten Mal Rabbiner kennengelernt, mit denen ich etwas anfangen konnte. Sie haben Aussagen getroffen, die mir etwas für mein Leben mitgegeben haben. All das hat mich nachhaltig beeindruckt. Das alles war Mitte der 80er Jahre, als die Amerikaner stark abgebaut haben, sowohl in Deutschland als auch in Europa.
Ich bin also mit nicht-orthodoxen Rabbinern in Kontakt gekommen. Ich habe dann mit dem Gedanken gespielt, selbst Rabbiner zu werden. Zu dem Zeitpunkt hätte das aber bedeutet, dass ich für diese Ausbildung ins Ausland hätte gehen müssen. Ich war persönlich noch nicht so weit. Doch dann hat 2001 das Abraham Geiger Kolleg seine Türen geöffnet. Das war für mich der Zeitpunkt, an dem es einfach gepasst hat.
Dort habe ich dann meine zweite Ausbildung absolviert. Diese dauert üblicherweise fünf Jahre, von denen ein Jahr in Israel obligatorisch ist. Das ist für das Lernen der Sprache einfach unglaublich wichtig, denn das Hebräische gehört zu einem der ganz, ganz wichtigen Skills, über die man als Rabbiner verfügen sollte.
Hauptaufgabe eines Rabbiners ist es, die Tora zu lehren. Mögen Sie einmal erklären, was die Tora genau ist?
Der Begriff Tora lässt sich wörtlich übersetzen mit Lehre. Die Tora selbst sind die fünf Bücher Moses. Die biblische Geschichte beginnt mit der Erschaffung der Welt und endet mit dem Tod Moses, kurz vor dem Einzug in das Land Israel. Es gibt dann noch das, was man früher als das Alte Testament bezeichnet hat. Das ist natürlich ganz wichtig, weil das letzen Endes das Narrativ ist, in welchem Sinne die jüdische Geschichte erzählt wird.
Darüber hinaus transportiert die Tora, gerade im ersten Teil, ganz viel Ethik und Moral. In ihr stehen Gebote. Diese Gebote haben in erster Linie das Ziel, eine möglichst soziale und gerechte Gesellschaft zu schaffen, die auf Nächstenliebe und Gerechtigkeit basiert. Denn: Nächstenliebe und Gerechtigkeit – das sind die beiden großen und wichtigen Ideen der Tora. Und genau das sollten wir versuchen – diese Inhalte aus der Tora den Menschen zu vermitteln.
Das ist also eine der Aufgaben eines Rabbiners. Dazu gehört eben auch die Auseinandersetzung mit den Texten. Wenn wir von den fünf Büchern Moses sprechen, dann lesen wir einen Abschnitt daraus an jedem Schabbat, also am siebten Tag, dem Schöpfungstag. Unser Kalender geht nach dem Mond, und unsere Tage fangen mit dem Abend an. Der Schabbat also beginnt am Freitagabend, ab dem Sonnenuntergang. Das ist zum Beispiel auch aus der Tora abgeleitet.
Wenn wir uns nun das Narrativ der Schöpfungsgeschichte anschauen, dann lesen wir, dass der Abend immer zuerst genannt wird. Daher kommt unsere Wahrnehmung, dass mit dem Sonnenuntergang der neue Tag beginnt. Wenn man sich das Klima anschaut, aus dem eben diese Texte kommen, dann macht das Sinn, denn es war in der Zeit vor Klimaanlagen. Also: Unser Samstag, der heilige Tag, der siebte Tag, fängt am Freitagabend an.
Es wird immer ein Stück aus der Tora gelesen, in chronologischer Reihenfolge. Wir fangen nach unserem Neujahrsfest, welches in den September fällt, mit bestimmten Texten an und lesen im Zyklus der Tora. Wir beginnen also mit der Schöpfungsgeschichte und lesen die ersten zwei, vielleicht auch mehrere Kapitel. Diese werden im Gottesdienst in einer bestimmten Form vorgelesen. Am nächsten Schabbat, also eine Woche später, lesen wir dann dort weiter, wo wir aufgehört haben. Am Ende des Jahres haben wir die heilige Schrift einmal komplett durchgelesen.
Wie sieht ein typischer jüdischer Gottesdienst aus?
Das ist eine schwierige Frage, da die einzelnen Gottesdienste sehr unterschiedlich sind. Ein Abendgottesdienst unterscheidet sich von einem Morgengottesdienst. Am Schabbatmorgen wird – wie ich es eben schon beschrieben habe – in chronologischer Reihenfolge aus der Tora gelesen.
Am Schabbatabend dagegen gibt es üblicherweise keine Textlesungen. Der Schabbatabend lässt sich relativ leicht beschreiben. Die anderen Gottesdienste sind jedoch recht komplex. Der Schabbatabend beginnt damit – und in diesem Punkt haben die jüdischen Gottesdienste etwas gemeinsam –, dass man einen Teil hat, den man nicht als das Pflichtgebet betrachtet, sondern vielmehr als einen emotionalen, spirituellen Einstieg.
Am Freitagabend ist es so, dass wir mit einem Lied anfangen. Man singt dann sechs Psalmen – für jeden profanen Tag der Woche einen. Jedem Tag wird ein Psalm traditionell zugeordnet. Also beten und singen wir diese sechs Psalmen. Dann kommt eine mystische Hymne, mit der wir den Schabbat willkommen heißen. Danach beten wir den siebten Psalm: Das ist der Psalm für den Schabbat-Tag. Es folgt ein achter Psalm in Form, und dann gehen wir über in das eigentliche Abendgebet.
Seit Oktober 2020 sind Sie der Landesrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg. Worin bestehen Ihre Aufgaben?
Meine Aufgaben sind vielfältig. Sowohl die Erwachsenenbildung als auch die Auseinandersetzung mit der Religion sowie das Transportieren der rabbinischen Auslegungstradition gehören zu meinem Tätigkeitsbereich. Wenn wir von Kindern und Jugendlichen sprechen, dann gibt es im Judentum bestimmte Feste im Lebenszyklus.
Wenn ein junger jüdischer Mensch – ein Mädchen mit 12 und ein Junge mit 13 – also diesen Geburtstag feiert, dann gibt es für die Jungen die Bar Mitzwa und für die Mädchen die Bat Mitzwa. Hierbei übernehmen die Jugendlichen zum ersten Mal aktiv einen Teil des Gottesdienstes. Sie lesen einen Text auf Hebräisch aus der Tora. Auf diese Aufgabe müssen sie also vorbereitet werden. Genau diesen Part übernehme ich.
Es geht also einmal um rein technische Fragen: Wie mache ich so etwas? Wie lese ich einen Text auf Hebräisch? Aber auch inhaltlich, damit das Verständnis dafür entsteht, in welchem Kontext dieser Text steht. Diese Bar Mitzwa-Vorbereitungen sind also Teil meiner Aufgaben.
Hinzu kommt die seelsorgerliche und spirituelle Betreuung meiner Gemeinde. Natürlich bin ich auch aufgefordert, mit einem wachen Auge auf meine Gemeinde zu schauen und zu sehen, ob es allen gut geht. Wenn ich also den Eindruck habe, dass jemand Unterstützung oder ein Coaching benötigt, dann muss ich an dieser Stelle handeln und konkret helfen. Und ich beteilige mich an Projekten für den interreligiösen Dialog. Sowohl mit christlichen als auch mit muslimischen Gemeinden stehe ich im Kontakt und gehe mit ihnen in den Austausch. Und Öffentlichkeitsarbeit gehört ebenfalls zu meinen Aufgaben.
Blicken wir noch auf einen anderen Abschnitt Ihres Werdegangs: 1999 wurden Sie Lehrer für Religion an der jüdischen Oberschule Berlin. Wie sah dort Ihre Tätigkeit im Detail aus?
Es ging unter anderem um jüdische Religionsphilosophie. Fragen wie diese standen im Vordergrund: Was ist das jüdische Gottesbild? Was ist das jüdische Menschenbild? Welchen Blick auf die Welt und auf den Menschen haben wir? Mit den jüngeren Klassen habe ich mich auch mit Bibeltexten und klassischer Religion auseinandergesetzt.
Von 2012 bis 2015 waren Sie an der jüdischen Gemeinde zu Berlin Beauftragter für Antisemitismus. Welche Erfahrungen haben Sie hier gesammelt?
Ich war damals in einer Doppelfunktion für den interreligiösen Dialog und als Beauftragter für den Kampf gegen Antisemitismus. Die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, waren erschreckend. Mir war schon klar, dass wir ein Problem mit Antisemitismus haben, aber wie hasserfüllt dieser zutage trat, das war wirklich schockierend. Jüdische Institutionen bekommen hasserfüllte Zuschriften. Und das ist ja auch nichts Neues. Aber bis weit in die 80er Jahre hinein kamen diese Botschaften anonym und häufig aus einem eher bildungsfernen Milieu; das ließ sich an Stil und Rechtschreibung erkennen.
Doch dies hat sich massiv geändert. Die neueren Zuschriften sind oft so geschickt formuliert, dass sie zwar von Judenhass triefen, aber nicht den Straftatbestand der Volksverhetzung oder Beleidigung erfüllen. Und sie kommen mit vollem Namen und vollständiger Anschrift, oft von Menschen mit akademischen Titeln – Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte. Die tägliche Auseinandersetzung mit diesem massiven Hass – das war belastend und wirklich anstrengend.
Antisemitismus ist nach wie vor ein großes Problem in Deutschland. Wie kann dem entgegengetreten werden?
Was wir als jüdische Gemeinde dagegen machen können, ist einmal Aufklärung. Und wir müssen in den öffentlichen Raum treten und klar machen, wer und was wir sind. Aber eigentlich sollte das nicht nur unsere Aufgabe sein. Denn es ist ja nicht nur ein Problem für unsere Community, sondern es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Natürlich können wir viel machen: Wir können Juden in Schulen schicken, damit die Kinder jüdische Geschichte kennenlernen. Wir müssen uns mit Antisemitismus, mit Judenhass auseinandersetzen. Es ist ein Ruck, der durch unsere Gesellschaft gehen sollte. In unserer Gesellschaft müsste sich ganz weit das Bewusstsein verankern, dass die Bekämpfung von Judenhass kein Kampf für die Juden und auch kein Kampf, kein Einsatz für Israel ist.
Vielmehr ist es ein Kampf und ein Einsatz für die Stärkung und den Erhalt einer demokratischen Zivilgesellschaft. Diese Form von Diskriminierung und Hass darf in unserer demokratischen Gesellschaft keinen Platz haben – das ist völlig klar. Und erst dann, wenn die Gesellschaft dies annimmt und versteht, erst dann haben wir überhaupt die Chance, erfolgreich in diese Auseinandersetzung zu gehen.
Sie haben persönlich Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht: 2012 wurden Sie und Ihre Tochter in Berlin angegriffen. Was war Hintergrund dieses Angriffes?
Es kam dazu, weil ich als Jude identifiziert wurde. Das war – wie so oft – anlasslos. Eine Gruppe von Jugendlichen mit islamischem Migrationshintergrund hat uns angegriffen. Dafür braucht es nicht so fürchterlich viel Anlass – leider. Die Tat wurde nie aufgeklärt. Ich war zwar häufig in Kontakt mit den ermittelnden Kriminalbeamten und diese haben meiner Meinung nach auch professionell und engagiert ermittelt. Aber die Täter konnten nicht ausfindig gemacht werden.
1993 haben Sie das Jugendbuch „Prinzessin Sabbat“ herausgebracht. Worum geht es in diesem Buch?
Das liegt ja nun schon ziemlich lange zurück. Ich bin damals angesprochen worden, ob ich nicht Lust hätte, dieses Buch herauszugeben. Das Buch selbst ist eine Sammlung jüdischer Geschichten, beziehungsweise Geschichten mit einem jüdischen Background von jüdischen Autoren für Kinder und Jugendliche. Damit sollte gezeigt werden: Schau mal – das ist unser Leben. Das ist die Welt, in der wir leben, mit all ihren Problemen und Herausforderungen. Es ging vor allem darum, ein Stück jüdisches Leben zu zeigen.
Vielen Dank, Herr Alter, für das Gespräch.