Über 1,2 Millionen Geflüchtete sind im letzten Jahr nach Deutschland gekommen. So viele wie selbst 2015 nicht. Das liegt vor allem an dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine; eine Millionen Ukrainer*innen haben über das letzte Jahr in Deutschland Schutz gesucht. Durch den Einsatz der EU-Massenzustrom-Richtlinie wurde ihnen die Einreise erleichtert – eine Maßnahme, die zum ersten Mal zum Greifen kam. Andere Geflüchtete kamen vor allem aus Syrien, Afghanistan und Iran. 2020 und 2021 waren die Grenzen wegen der Corona-Pandemie geschlossen, deutlich weniger Asylsuchende erreichten Europa.
Doch jetzt nehmen die Zahlen wieder zu. Und die Debatte um Flucht und Asyl nimmt damit einen deutlichen Aufschwung. Die anfängliche Willkommenskultur scheint verflogen. Am Montagabend diskutierten zum Beispiel in der ARD-Sendung „Hart aber fair“ der flüchtlingspolitische Sprecher von ProAsyl Tareq Alaows, CDU-Politiker Jens Spahn, Grünen-Politikerin Britta Hasselmann, Landrätin von Regensburg Tanja Schweiger und Journalistin Isabel Schayani über die Flucht nach Deutschland.
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich mir Talkshows und Diskussionsbeiträge zu den Themen Migration, Flucht und „Integration“ nicht mehr anschauen möchte. Es ermüdet mich, ständig dieselben wiederkehrenden Argumente und Perspektiven zu hören. Es macht mich wütend, wenn lauter verschiedene Dinge in einen Topf geschmissen werden, ohne Differenzierungen, ohne Sensibilität. Aber natürlich ist mir auch bewusst, dass ich nicht abstumpfen darf. Dass es wichtig ist, sich anzuschauen, wie diese Themen verhandelt werden. Auch um zu verstehen, wie mediale Darstellungen sich auf gesellschaftliche Reibungspunkte auswirken.
Die Debatten wiederholen sich
Der Titel der Sendung ließ die Perspektive schon klar vermuten: „Über eine Million Menschen suchen Zuflucht: Deutschland an der Belastungsgrenze?“. Es geht also um Deutschland. Und die ewige Frage: Schaffen wir das?
Die Kommunen seien überfordert. Es gebe nicht genug Kapazitäten, um die Menschen unterzubringen. Illegale Migration müsse unterbunden werden. Und natürlich die Forderung nach mehr Abschiebungen.
Insbesondere Jens Spahn bediente sich bei „Hart aber Fair“ diesem 1×1 der Antworten auf steigende Geflüchtetenzahlen. Doch es geht nicht ganz auf. Denn – so berichten Tareq Alaows, Britta Hasselmann und Isabel Schayani – viele Kommunen seien überhaupt nicht überfordert, sondern hätten gut geplant und gehaushaltet. Ukrainer*innen müssen in Deutschland keinen Asylantrag stellen, viele bürokratische Schritte fallen damit weg. Auch kommen sie nicht über das Mittelmeer oder die Balkan-Route.
Dennoch schlägt Jens Spahn vor, die Geflüchteten schon vor den europäischen Grenzen abzufangen, damit sie gar nicht erst einen Asylprozess in Europa beginnen. “Die Lösung liegt nicht in Deutschland”, so Spahn. Man dürfe nach außen nicht signalisieren, Deutschland könne alle Probleme lösen. Also Ukrainer*innen ja, der Rest nein.
Da haben wir es wieder. Dass die Frage von Flucht in ein Narrativ gepresst wird, indem geflüchtete Menschen aus nicht-europäischen Staaten eine Belastung für Deutschland darstellen. Es erinnert schnell an den Satz von Horst Seehofer, der nach den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz sagte, dass Migration “die Mutter aller Probleme” sei.
Solche Talkshow-Debatten wiederholen sich. Die Teilnehmenden spielen eine bestimmte Rolle, aus der es kaum möglich ist, auszubrechen. Mir fällt es schwer, dran zu bleiben, weil immer wieder dieselben Narrative auftauchen. Warum werden zu solchen Sendungen nicht mal Menschen eingeladen, die die Geflüchteten vor Ort ehrenamtlich versorgen und davon erzählen, was die Menschen, die hierherkommen, für Erfahrungen machen? Warum ist Tareq Aloaws der einzige in der Runde, der selbst eine Fluchtgeschichte hat?
Platzhalter-Diskussionen lösen keine Probleme
“2015 bedeutet für mich Schmerz innerhalb Europas”, sagt Aloaws. Es sei beleidigend für ihn und viele weitere Menschen, die geflohen seien, wenn man die Entscheidung zur Flucht so verharmlose. Doch dieser persönliche Schmerz bekommt gar keinen Raum. Und Ansätze, die tatsächliche Differenzierung zulassen, gehen unter.
Wenn Medien Flucht weiterhin als Belastung für den aufnehmenden Staat, statt für die betroffenen Menschen framen, wird Krieg und Leid verharmlost. Solchen Narrativen und Debatten gilt es entgegenzuwirken. Denn immer mehr Menschen werden zukünftig gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen. Sich mit Platzhalter-Diskussionen aufzuhalten, wird dieses Problem nicht lösen.
Natürlich müssen wir darüber sprechen, wie alle Menschen Zugang zu Wohnraum, Bildungsstätten und anderen wichtigen Einrichtungen erhalten. Natürlich müssen wir darüber sprechen, wie Fluchtwege sicher gestaltet werden können, damit Menschen auf dem Weg in ein sicheres Leben nicht Todesrisiken auf sich nehmen müssen. Und natürlich müssen auch Lösungen her, wenn es Kommunen an Ressourcen fehlt, um genügend Menschen aufzunehmen.
Doch wenn wir von Anfang an die Perspektive der Belastung einnehmen – die Annahme, dass Migration gleichbedeutend mit Problemen sein muss – dann werden wir nur zu begrenzten Lösungen kommen. Zu Lösungen, die wenig mit Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit zu tun haben, sondern mit Populismus und Abschottung.
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