(Un)Glück patrilinearer jüdischer Identität

Vom Glück, ein "Mischling" zu sein, spricht die eine. Vom Gefühl, ganz allein auf der Welt, anders und innerlich gespalten zu sein, die andere. Ionka Senger und Regula Weil gehören, zynisch ausgedrückt, zu einer Minderheit innerhalb einer Minderheit. Sie sind in einer jüdischen Familie aufgewachsen, feiern seit Jahrzehnten Chanukka, fühlen sich mehr oder weniger jüdisch, und werden doch niemals Jüdinnen sein.

patrilinearer jüdischer Identität
Fotograf*in: Luis Gonzalez on Unsplash

Es ist ein dunkler Novemberabend in Hamburg. In der Aula der Jüdischen Gemeinde Hamburg sitzen, mit dem gebotenen Mindestabstand zueinander, gut zwanzig Besucher:innen der Lesung des Buches „Väter unser… Vaterjüdische Geschichten“. Die Autorinnen Ionka Senger, Regula Weil und Ruth Zeifert veröffentlichten das Buch im Jahr 2021. In dem Buch schreiben sie zu Themen wie Familie, Freundschaften, dem Verhältnis zu Israel. Allgemein schreiben sie über das Leben als Jüdin mit einem jüdischen Vater und einer nicht-jüdischen Mutter. Ebenso lassen sie in ihrem Buch sieben weitere Vaterjüdinnen zu Wort kommen. Auch im Publikum finden sich, wie sich später herausstellt, überwiegend Personen mit patrilinearer jüdischer Identität so wie die Autorinnen.

Das “How To Become” der Religionen

In jeder Religion erfolgt die Anerkennung in der Gemeinschaft nach jeweils eigenen Kriterien. Christlich wird man durch die Taufe, entweder als Säugling durch die Entscheidung der Eltern oder selbstbestimmt im Erwachsenenalter. Anders ist dies jedoch in anderen Religionen. Sowohl im Islam als auch im Judentum galt zunächst das Prinzip der väterlichen Religionsvererbung, auch Patrilinearität genannt. Das Prinzip der Patrilinearität besagt, dass die Religion des Vaters die Religion der Familie bestimmt. Aus rabbinischen Schriften heraus etablierte sich jedoch im Judentum vor etwa 2000 Jahren das Prinzip der Matrilinearität. Wie genau es dazu kam, ist nicht vollständig geklärt. Es liegen mehrere Vermutungen zu dieser historischen Entwicklung vor.

Unabhängig des kausalen Zusammenhangs, wird seitdem ein Mensch nur dann von einer jüdischen Gemeinde anerkannt und darf ihr beitreten, wenn er oder sie von einer jüdischen Mutter auf die Welt gebracht wurde. Anderenfalls kann eine Aufnahme in eine jüdische Gemeinde nur durch den langwierigen und aufwändigen Konvertierungs-Prozess Gijur erfolgen. Diese Regel geht zurück auf die Halacha, den Teil der Überlieferung des Judentums, welcher Bräuche, Traditionen und Rechtsgrundsätze beinhaltet.

Die Auslegung der Halacha

Die Auslegung der Halacha in jüdischen Gemeinden erfolgt dabei unterschiedlich. So sind in den USA Menschen patrilinearer jüdischer Herkunft seit der Resolution der Central Conference of American Rabbis aus dem Jahre 1983 als gleichgestellte Mitglieder liberaler Gemeinden anzusehen. In Israel stellt sich die Frage weitgehend nicht. Dort gelten generell nur Personen als jüdisch, deren Mutter, Großmutter, Urgroßmutter oder Ururgroßmutter jüdisch war beziehungsweise noch ist.

„Und die Deutschen, die sind stur.“

„Und die Deutschen, die sind stur.“ Eine Besucherin der Lesung berichtet von ihrem Unverständnis über das Festhalten an der Tradition, Patrilineare als Nicht-Juden aus dem Gemeindeleben auszuschließen. Die Verfassung der jüdischen Gemeinde Hamburg beispielsweise besagt nach Stand von 2016, dass „alle Personen mit Wohnsitz in Hamburg und Schleswig-Holstein [Mitglieder der Gemeinde] werden [können], welche nach dem jüdischen Religionsgesetz Juden sind.” Und dieses Gesetz ist die Halacha, die keine Ausnahmen macht.

Halle hält zusammen

An die Regeln der Halacha halten nahezu alle jüdischen Gemeinden fest. Als eine der wenigen in Deutschland ist es die jüdische Gemeinde zu Halle, welche einen anderen Weg eingeschlagen hat. Dies schon seit über 20 Jahren. Die Gemeinde erlangte im Oktober 2019 auf tragische Weise Berühmtheit. Nach einem verhinderten Anschlag auf das Jom Kippur Fest in der Synagoge in Halle, fielen zwei Menschen in deren Nähe dem Täter zum Opfer. Max Privorozki ist seit 1999 Vorsitzender der Gemeinde. Seit 2009 ist er auch Vorsitzender des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt. Die Frage, ob seine Gemeinde offen gegenüber patrilinearen Juden und Jüdinnen ist, verneint er zunächst.

Gemeindezugehörige in Gemeinden

Es gibt jedoch eine Regelung, welche eine Integration ermöglicht, zumindest im Zusammenleben. Neben den 517 offiziellen Gemeindemitgliedern gibt es nämlich noch 96 sogenannte Gemeindezugehörige. Sie sind Verwandte von Gemeindemitgliedern – Enkelkinder, Ehepartner:innen und die Patrilinearen. Für die Eintragung eines Gemeindezugehörigen in eine entsprechende Sonderliste stellt das Gemeindemitglied einen Antrag und entrichtet (offiziell) dessen Beitragsgebühr. Ansprüche gegenüber der Gemeinde haben Gemeindezugehörige nicht, so Privorozki. Religiöse Riten wie die Bar/Bat Mitzwa sind ebenso den jüdischen Gemeindemitgliedern vorbehalten.

“Grundsätzlich sind Gemeindezugehörige keine Mitglieder, weder aktiv noch passiv”, so Privorozki. “Wir möchten den Familien unserer Gemeindemitglieder mit nicht-jüdischen nahen Verwandten das Gemeindeleben zu hundert Prozent öffnen. Es geht aber auf keinen Fall um die Anerkennung von nicht-jüdischen Menschen als Gemeindemitglieder.”  Trotzdem, und das ist vielleicht auch wichtiger, nehmen alle Kinder der Jüdischen Gemeinde zu Halle geschlossen an Ferienfreizeiten, den sogenannten Machanot, teil. Und halten zusammen, indem sie Veranstaltungen, an denen patrilineare Kindern nicht teilnehmen dürfen, boykottieren. “Das hat mich sehr stolz gemacht”, erinnert sich Privorozki an einen solchen Vorfall.

„Es ist wie Schach”

Eine vom Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Halle für vertretbar befundene Lösung betrifft die Aufteilung des Jüdischen Friedhofs. Neben dem Hauptteil des Friedhofs liegt das Grabfeld A1. In einem Teil dieses Grabfeldes A1 finden nicht-jüdische Gemeindezugehörige ihre letzte Ruhestätte. Der zweite, durch ein mindestens 1,25 m hohes Gebüsch getrennte Teil steht deren Angehörigen, den Gemeindemitglieder, zur Verfügung. Beerdigungen von nicht-jüdischen Gemeindezugehörigen dürfen nur konfessions-neutral durchgeführt werden.

Nach Inklusion und Toleranz klingt das alles irgendwie nicht. Ist es ein zu hoher Anspruch, den die Moderne an eine so alte und traditionsreiche Religion stellt? Privorozki findet dafür eine Metapher: “Es ist wie Schach. Zwei spielen Schach und kennen die Regeln. Eine Person führt neue Regeln ein und vielleicht macht das Spiel so auch mehr Spaß, aber dann ist es nicht mehr Schach.”

Die Frage nach der patrilinearen jüdischen Identität

Doch wenn es keine formelle religiöse Zugehörigkeit für Menschen wie Ionka und Regula geben kann, wie entsteht dann ihre Identifikation? Für die beiden ist Identität mehr als ein Eintrag in der Geburtsurkunde. Über Sprache, Herkunft und Geschichte könne man sich ebenso sehr mit einer Religion identifizieren. So teilen viele Patrilineare das Trauma der Shoa, unter welcher ihre Vorfahren litten. Kann man diesen Menschen trotzdem ihr religiöses Zugehörigkeitsgefühl absprechen? Wie wachsen patrilinear jüdische Kinder unter diesen Gegebenheiten auf? Die beiden Autorinnen berichten von teilweise gegensätzlichen Erfahrungen. Ionka fühlte sich damit wohl, „nichts Halbes, sondern etwas Doppeltes“ zu sein, sie genoss also ihre geteilte Identität. Sie ist irgendwie eine Jüdin, aber irgendwie auch nicht. Heute spricht sie davon, dass es „etwas Wunderbares ist, mehr als eine Wurzel zu haben“. „60-70 Prozent jüdisch“ sei sie nach eigenem Gefühl, und dabei grundsätzlich atheistisch.

Nie mehr das billige Kind sein

Deutlich belastender war das Heranwachsen für Co-Autorin Regula. Obwohl sich ihre Eltern – die Mutter eine Nicht-Jüdin – in der jüdischen Gemeinde in Bern aktiv einbrachten, spürt man bei ihrer Erzählung eine Art Traumatisierung. Sie habe sich immer gefragt, „wo denn die anderen sind“, die anderen Vaterjüdinnen und Vaterjuden, die sich dieselbe Frage nach ihrer Identität stellten. Durch die Arbeit an dem gemeinsamen Buch habe sie gemerkt, dass der gemeinsame Nenner im Endeffekt dieses Anders-Sein ist. Regula war in ihrem Freundeskreis das „billige Kind“, das weder eine Konfirmation noch eine Bat-Mitzwa feiern durfte. Dieses Gefühl wollte sie keinesfalls ihrer eigenen Tochter mitgeben. So veranstaltete sie eine große Feier mit Verwandten und Freundinnen für sie, ganz ohne religiöse Pflichten, allerdings auch ohne die Aufnahme in den Kreis einer Religionsgemeinschaft.

Die Zukunft der Patrilinearität

Im Zuge der Recherche stelle ich mir immer wieder eine Frage: Was, wenn es umgekehrt wäre? Wenn nicht die Religion der Mutter, sondern des Vaters über die Religion des Kindes bestimmt? Die Antwort ist leicht: es würde keinen Unterschied machen. Es wäre möglicherweise schwer für das Kind, welches sich zugehörig fühlen möchte, ganz egal ob einer Religion oder einer anderen Gruppe, dies aber nicht kann oder darf.

Unsere Welt ist bunt und Partnerschaften genauso. In Zukunft wird es nicht weniger Kinder hybrider Elternherkünfte geben. Dies wird zur Normalität. Zeit, dies anzuerkennen und Gemeinschaft möglich zu machen.

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Axel Richter und Lavanya Honeyseeda.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Rachel Calé
Rachel ist 2016 nach Hamburg gezogen und hat dort eine kaufmännischen Ausbildung absolviert. Aktuell arbeitet sie als Online-Redakteurin bei einem Verbraucher:innenmagazin. Sie genießt es, sich in unbekannte Themen einzuarbeiten und dadurch mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Um abzuschalten setzt sich Rachel ans Klavier, rollt die Yoga-Matte aus oder schnürt ihre Laufschuhe.

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