Lützerath aus meiner Perspektive

Kaum ein Thema wird momentan so heiss diskutiert wie die Proteste gegen die Räumung von Lützerath. Ist das ein Thema für kohero? Hat der Klimawandel etwas mit Migration und Flucht zu tun? Man kann dieses Thema aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachten. Chefredakteur Hussam Al Zaher teilt seine in diesem Kommentar.

Fotograf*in: Benjamin Jopen on unsplash

Als koheros Redaktionsleitung – Natalia, Sarah und ich- diese Woche diskutiert hat, welches aktuelle Thema es für diese kohero_Kolumne gibt, kamen wir immer wieder auf die Demonstrationen rund um Lützerath. Es wurde sehr viel in den Medien dazu diskutiert, aber wir haben uns die Frage gestellt: passt dieses Thema zu koheros Fokus auf Flucht, Migration und Zusammenleben?

Sarah sagte dazu: Doch, wieso sollte es nicht passen? Dafür spricht zum Beispiel, dass eine der Sprecherinnen der Initiative “Lützerath lebt”, Dina Hamid, im Interview sagte: “Wir müssen uns klarmachen, schon heute sterben Menschen an der Klimakrise (…) vor allem geht es darum, Leben zu schützen von Menschen, die am stärksten darunter leiden und das ist im globalen Süden. Wir erinnern uns auch daran, dass ein Drittel von Pakistan im letzten Jahr unter Wasser stand und das ist erst der Anfang. Wir rasen auf Kipppunkte zu…” (ZDF, ab 03:00).

Wenn wir uns der globalen Klimakrise bewusst sind, ist das natürlich auch ein Thema für kohero. Es geht um die Auswirkungen der Klimakrise, die auch für viele Grund zur Flucht sind. Das zeigte auch unser Fokus auf das Thema Klimakrise als Ursache von Flucht im November 2021.

Welchen Platz hat Lützerath auf der Prioritätenliste?

Gleichzeitig ist es meine persönliche Erfahrung, dass die Art und Weise, wie in Deutschland und in deutschsprachigen Medien über die Klimakrise diskutiert und dagegen demonstriert wird, nicht inklusiv ist.

Ich habe selber die Demonstrationen rund um Lützerath nicht so intensiv verfolgt, auch weil ich mich als Syrer in Deutschland von dem Aktivismus nicht angesprochen fühle. Und die Demonstrationen waren auch nicht unbedingt ganz oben auf meiner Liste von Prioritäten. Im Alltag beschäftigt mich die humanitäre und wirtschaftliche Krise, die bis heute Syrer*innen leiden lässt.

Oder ich sorge mich um meine Familie in Syrien, die nur eine Stunde Strom am Tag bekommt, und ob sie Solarstromanlagen kaufen können oder ob auch das zu teuer ist. Hier eine Notiz: Aktuell werden viele Wohnungen und Häuser in den von Assad kontrollierten Gebieten mit Solaranlagen ausgestattet. Aber nicht, weil es ein großes Bewusstsein für erneuerbare Energien im Land gibt, sondern weil das syrische Regime sich einfach nicht mehr um die Stromversorgung für die einfache Bevölkerung kümmert.

Wie für viele andere Geflüchtete in Deutschland gibt es für mich also Themen im Alltag und in der Zukunft, die mich mehr beschäftigen als Klima-Demonstrationen. Zum Beispiel, wie ich mit meinem abgelaufenen syrischen Pass umgehe, da die Hamburger Behörden mir keinen Ersatzpass für Ausländer ausstellen möchten. Oder um die gestiegenen Heizkosten und die Inflation, da wir bei kohero leider (noch) nicht einen Inflationsausgleich an mich und meine Kolleginnen zahlen können.

Herkunft und Lebenswandel

Aber weil ich auch viel Zeit mit Deutschen ohne Migrationsgeschichte verbringe, weiß ich, dass nach dem Wetter die Klimakrise ein Top Gesprächsthema ist. Durch diese Diskussionen habe ich auch viel gelernt, zum Beispiel was jede individuelle Person für oder gegen den Klimawandel tun kann. Als Kind einer Mittelschicht-Familie aus dem globalen Süden (oder ist es der globale Osten?) glaube ich, dass mein persönlicher CO2 Fußabdruck kleiner ist, als der von den meisten Aktivist*innen, die hier in Deutschland aufgewachsen sind. Aus finanziellen Gründen haben wir weniger Fleisch gegessen und sind als Familie nicht außerhalb von Syrien verreist.

Als ich vor kurzem mit einem Bekannten über dieses Thema, Reisen und CO2-Fußabdruck gesprochen habe, hat er gesagt, er sei im letzten Jahr ‘nur’ acht Mal geflogen. Als ich dann fragte, ob er hin und zurück als zwei Flüge zählt, war er überrascht und sagte nein. Ich fragte mich danach: Und du? Wie viele Male bin ich im Flugzeug geflogen? Bis jetzt waren es vier Flüge – in meinem Leben.

Klimakrise, Dürre und Syrien

Obwohl viele Syrer*innen wie ich wegen unseren seltenen Reisen, oder der Art, wie wir aufgewachsen sind, die Umwelt mit weniger CO2 belastet haben, weiß ich, dass wir doch Aufmerksamkeit für dieses Thema brauchen. Denn wir leiden auch unter der Klimakrise, die Armut verursacht und Menschen in die Flucht treibt. Es gibt auch Diskussionen und Theorien über die Rolle einer jahrelangen Dürre in Syrien als einer der Auslöser der Revolution. Es war meiner Meinung nach nicht der Hauptgrund, aber es hatte in den Jahren vor 2011 viele Menschen innerhalb des Landes von den ländlichen Regionen in die Städte vertrieben. So hatte sich große Enttäuschung  in der Landbevölkerung verbreitet.

Mit diesem Kommentar versuche ich auch, mir selber mehr bewusst zu werden, dass es nötig ist, die Klimakrise auch in meinem Kontext zu verstehen. Auch wenn es langfristig erscheint, Menschen fühlen weltweit die Konsequenzen der Klimakrise. Deswegen sollten wir alle – ob geflüchtet, zugewandert, hier aufgewachsen oder nicht – dagegen kämpfen, so wie wir können. Damit kämpfen wir für unsere Familien, unsere Freund*innen und ehemalige Nachbar*innen, und die Länder, wo unsere Wurzeln und Heimaten sind. Und für unsere Kinder, damit sie nicht die größten Verlierer von allen werden.

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