Ist Eisessen im Freien eine Kulturdebatte?

Eine Kolumne zum Thema Eisessen sorgte neulich für Aufregung. In diesem Kommentar teilt Hussam seine Perspektive dazu.

Fotograf*in: GG LeMere auf unsplash

“Ist Eisessen im Freien obszön?” Das ist der Titel einer aktuellen Kolumne von dem syrischen Autor Mohamad Alkhalaf. Der Artikel wurde in den letzten Tagen viel auf Twitter und in konservativen und rechten Medien diskutiert. Die Süddeutsche Zeitung und vor allem der Journalist Alkhalaf wurden kritisiert. Übermedien hat in einem sehr interessanten Kommentar ausführlich beschrieben, wie aus dem Kommentar eine “erfundene Debatte” entstehen konnte. 

Ich möchte in meiner Kolumne nicht über diese (fast schon typisch deutsche) Diskussion zwischen Twitter User*innen und konservativen Medien sprechen, wo jede Aussage von einem Ausländer mit Absicht falsch verstanden und umgedreht wird. Viel interessanter ist das sowalif aus der syrischen und der arabischsprachigen Community und wie diese auf die Kolumne reagiert hat. 

Kritik an Alkhalaf

Der auf Facebook bekannte syrische Journalist Omar Kasir hat den Artikel übersetzt und Alkhalaf kritisiert, weil er den Rechten eine Grundlage gegeben hat, um noch mehr gegen Syrer*innen zu hetzen. Aber er kritisiert auch die Süddeutsche Zeitung, warum sie dem Autor Platz für diese Meinung eingeräumt hat. Es gab sehr viele zustimmende Kommentare

Was ich interessant finde, ist, dass Alkhalaf seit 2018 monatlich seine Kolumne schreibt, aber die syrische Community ihm bisher wenig Aufmerksamkeit gegeben hat. Erst mit der Übersetzung und der Kritik durch Kommentatoren wie Kasir wurden viele Syrer*innen auf Alkhalafs Kolumne aufmerksam.

Hier zeigt sich, wie wichtig es für uns ist, die Muttersprache Arabisch zu nutzen, um die Syrer*innen online zu erreichen, auch wenn viele Syrer*innen sehr gut Deutsch sprechen. Als Plattform kann man nur mit der arabischen Sprache (und hauptsächlich durch Facebook) die erste Generation erreichen. Oder aber man braucht einen Shitstorm von den konservativen Medien, um die Aufmerksamkeit der Syrer*innen in Deutschland zu gewinnen. Denn viele syrische Journalist*innen beobachten die konservativen und rechten Medien und wissen, dass diese oft negativ über die syrische Community berichten, während liberale und linke Medien das weniger tun.

Ebenfalls ist interessant, wie diese Art von Kolumne uns vor die große Frage stellt, wer die Syrer*innen repräsentieren kann und darf, und wer über “die” syrische Gesellschaft schreiben kann.

Die Vielfalt syrischer Kulturen

Ich habe selbst schon lange bemerkt, dass ich, wenn ich über Syrien spreche und schreibe, immer sagen sollte: „Mein Syrien“ oder „Die Syrerinnen und Syrer, die ich kenne“. Denn ich habe schon oft Kritik von syrischen Leser*innen bekommen, die andere Erfahrungen gemacht haben. Das hat mich zum Nachdenken gebracht und die Frage gestellt, wie viel syrische Kultur wir eigentlich besitzen und warum wir keine einheitliche syrische Identität und Kultur haben.

Syrien ist so vielfältig, es gibt Menschen verschiedener Ethnien und Glaubensrichtungen und es ist (oder war, vor 2011) das viert-dichtest besiedelte Land in der Region. Wir wissen, dass dadurch über die Jahrhunderte verschiedene Geschichten, Traditionen und unterschiedliche Kulturen in fast jeder Provinz entstanden sind. Nur die Regierung fokussiert sich gerne nur auf die Großstädte Damaskus und Aleppo als Zentrum der syrischen Kultur. 

Also besteht der Hauptfehler von uns allen darin, dass wir der Kolumne von Mohamad Alkhalaf viel mehr Bedeutung beimessen, als sie eigentlich tragen kann. Diese Kolumne soll oberflächliche und humorvolle Vergleiche zwischen den Kulturen ziehen, die der Autor kennengelernt hat. Sie ist nicht dafür da, tief in die syrischen Kulturen einzutauchen, oder die historischen Wurzeln für heutige Vorurteile zu suchen.

Ich finde es einerseits gut, dass deutschsprachige Medien Interesse und Offenheit für diese Art von Kolumne zeigen. Aber andererseits: warum können die Medien nicht mehr als nur eine Kolumne über Vergleiche zwischen den Kulturen leisten? Interviews und Reportagen, die einen tiefen Einblick in andere Kulturen geben, könnten Vorurteile reduzieren. Sind die großen Medien zu faul dafür? Oder sind es die Leser*innen, die sich dafür nicht interessieren? 

Wem gehört der öffentliche Raum?

Eine tiefergehende Reportage könnte zum Beispiel der Frage nachgehen, wie sich der öffentliche Raum in syrischen Städten verändert hat. In seiner Kolumne schreibt Alkhalaf: „In vielen konservativen Gesellschaften, dazu zählt Syrien in gewisser Hinsicht definitiv, wird – speziell von Frauen – erwartet, dass sie in der Öffentlichkeit eine zurückhaltende und respektvolle Haltung zeigen. Das Verspeisen von Speiseeis und anderen Mahlzeiten, die als phallisch geformt angesehen werden könnten, würde als provokant oder anstößig empfunden werden.

Dabei ist die Frage, wem der öffentliche Raum gehört und wer entscheidet, was in der Öffentlichkeit gemacht werden darf, gar nicht so einfach und klar zu beantworten. Das liegt nicht nur daran, dass Syrien eine konservative Gesellschaft ist. Der öffentliche Raum gehört der Regierung, und da Syrien eine Diktatur ist, konzentriert diese sich vor allem auf Stabilität und Kontinuität. Also erlaubt die syrische Regierung und auch die Gesellschaft, über die geherrscht wird, nur sehr konservative Werte in der Öffentlichkeit zu zeigen. 

Warum diese Werte vor allem auf dem Rücken der Frauen (oder auf ihren Köpfen) ausgetragen werden, ist auch eine komplizierte Frage. 

Im Privaten sind den Syrer*innen jedoch ganz andere Freiheiten gewährt und dort entscheidet vor allem die Familie, welche Werte gelebt werden. Ich finde es also eigentlich schwierig zu sagen, ob die syrische Gesellschaft konservativ ist oder nicht, weil wir dafür die privaten Leben in den verschiedenen Kulturen, Städten und Religionen des Landes verstehen müssen. Das erfordert aber eher jahrelange Forschung als Kolumnen wie meine oder die von Alkhalaf. 

Eiscreme-These

Zurück zu den oberflächlichen Vergleichen, könnten wir außerdem darüber sprechen, dass Syrien auch ganz anders ist als Deutschland aufgrund des Wetters. Die Syrer*innen vermissen die Sonne nicht so sehr wie die Deutschen, daher setzen sie sich nicht bei den ersten Anzeichen des Frühlings oder zweistelligen Temperaturen den ganzen Tag draußen hin, um ein paar Sonnenstrahlen zu klauen und für den langen Winter zu speichern.

Ich stelle daher die These auf, dass es deshalb nicht in jeder Straße so viele Eiscreme-Geschäfte wie in Deutschland gibt. Die Deutschen essen wirklich gerne Eis: laut dem Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie waren es im vergangenen Jahr circa 8,1 Liter Eis pro Person, das sind circa 116 Kugeln. Leider gibt es keine Statistik, wie viel Eis die Syrer*innen pro Jahr essen. Aber ich glaube, dass es erstens mehr zu Hause passiert und zweitens mehr arabisches Eis, oder “Booza” gegessen wird. Booza wird aus Milch, Sahne, Zucker, Mastix und “Sahlab” (Orchideenmehl) hergestellt, was ihm eine dehnbare und zähe Textur gibt, weshalb es typischerweise mit Löffeln gegessen wird.  

Beginn einer neuen Diskussion

Würde der Freund von Mohamad Alkhalaf, um den es in seiner Kolumne geht, weniger Scham empfinden, wenn Frauen Eis mit dem Löffel essen? Vielleicht nicht, laut einem Kommentar auf Twitter liegt das Problem woanders. Jemand schrieb als Reaktion auf die Kolumne: „Du siehst zu viele Pornofilme“. Obwohl dies ein gemeines Vorurteil ist, hat die Pornografie leider doch viele Männer geprägt und beeinflusst, wie sie die Frauen in ihrer Umwelt sehen. Irgendwie ironisch, dass Pornofilme hauptsächlich aus den westlichen, liberalen Gesellschaften kommen, aber Frauen darin meistens als Objekte und “Sexmaschinen” dargestellt werden. Weltweit gucken viele junge Männer solche Videos an und verbinden Frauen in ihren Gedanken sofort mit Sex. 

Da in Syrien aber nicht öffentlich (und meistens auch nicht innerhalb der Familie) über Sex gesprochen wird, werden diese Gedanken nicht weiter analysiert oder diskutiert. Und das ist auch eine Gefahr, denn so wird die Sexualisierung von Frauen und Mädchen nicht hinterfragt oder unterbrochen. Dank des provokanten, aber interessanten Titels und der Fragestellung in dieser Kolumne wird in der syrischen Community jetzt darüber diskutiert. Mehr Syrer*innen teilen ihre Perspektiven und Erfahrungen, und schaffen Raum für Kritik. 

Zum Abschluss möchte ich sagen, dass ich in Deutschland den Spruch gelernt habe, “Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten”. Die Frage ist der erste Impuls zum Nachdenken und Diskutieren. Durch solche Diskussionen können wir uns weiterentwickeln und Neues lernen. Deshalb danke ich Mohamad Alkhalaf für seine Fragen und für seine Kolumne.

 

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Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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„Wir brauchen mehr Freiheit in unserem Glauben“.

Wer nach Freiheit ruft, muss auch Freiheit leben – meint der Autor dieses Kommentars, Hussam Al Zaher. Eine neue Fatwa  zur Ehe von muslimischen Männern in nicht-muslimischen Ländern mit nicht-muslimschen Frauen, aktuell veröffentlicht vom syrischen Islamrat, spricht jedoch eine ganz andere Sprache.

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ZEIT für Qualitätsjournalismus?

Am 30. Mai postet ZEIT Online Politik auf Twitter Folgendes: “Integration war gestern: Deutschland ist das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt und die Urdeutschen dürften auf absehbare Zeit zu einer numerischen Minderheit unter vielen werden. Und nun?” Darunter ein Bild von vier migrantisch gelesenen Männern in einem Cabrio, einer von ihnen am Handy. “Migranten: Sie werden die Mächtigen sein” heißt der Beitrag, der hier angeteasert werden soll. Mein erster Gedanke: ein nicht ganz so qualitätsjournalistisches wtf. Der Artikel erscheint unter dem Schwerpunkt Weltland. In drei Beiträgen sollen Migrationsbewegungen nach Deutschland erklärt werden, so far so good. Hätte man ein wenig weiter als 1950 zurückgeschaut, würde klar werden, dass es Migration schon immer gab und wir alle in irgendeiner Form eine Migrationsgeschichte haben, doch daran will ich mich an dieser Stelle nicht aufhängen. ABER: Wer rechte Rhetorik und rassistische Framings nutzt, diskriminiert, schürt Ängste und stärkt rechtsextreme Strömungen. Das sieht man schon daran, dass sich unter dem Post Personen tummeln, die man überwiegend rechten Gruppen zuordnen würde. Beifall von AfD-Anhänger*innen ist kein Kompliment. Es reicht nicht, den Post zu löschen und sich erklären zu wollen. “Wir haben einen Tweet zu einem Essay von @_vanessavu gelöscht. Die Wortwahl war missverständlich. Der Text handelt davon, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland statistisch bald nicht mehr in der Minderheit sein könnten” – das war nicht missverständlich, es war richtig schlimm und problematisch! Statt des Dreizeilers sollte sich die ZEIT für das Posting entschuldigen und die Bezahlschranke vor dem Beitrag entfernen. Nach diesem Teaser kann dann zumindest jede Person den Inhalt für sich selbst einordnen. Höchster Anspruch? Inzwischen gibt es ein neues Posting von ZEIT Online zu dem Beitrag. Als neues Bild für den Tweet wurde ein Foto von zwei Ukrainerinnen aus dem Beitrag genutzt, im Text wird das Narrativ der “Anderen” genutzt, um migrierte Menschen

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Sprachweh nach Muttersprache

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Letzten Samstag habe ich einen Bekannten getroffen. Seit langer Zeit habe ich endlich mal wieder in meiner arabischen Muttersprache, nach der ich Sprachweh hatte, über interessante Themen diskutiert, die ich bis jetzt nur in der deutschen Sprache diskutiert habe. Wenn ich mit meinen Bekannten auf Arabisch über Kolonialismus, Postkolonialismus, Feminismus, Integration, das Leben im Exil, über Heimweh spreche, denke ich die Worte zuerst auf Deutsch und übersetze sie dann ins Arabische. Das war für mich eine Überraschung, als ich das bemerkt habe. Ich habe dieses Gefühl, wenn ich Freunden oder Bekannten auf Arabisch vom kohero Magazin erzähle. Ich habe es mir so erklärt, dass mein Gehirn zuerst die deutschen Worte schickt, weil ich ja fast nur auf Deutsch über das Magazin spreche – obwohl ich Arabisch spreche.   Drei Sprachen Das hat mich zum Nachdenken darüber gebracht, welche meine Sprache ist. Auf diese Frage zu antworten, ist auf jeden Fall nicht einfach. Meine Muttersprache ist Arabisch mit dem Akzent meiner Familie, die Sprache, die ich mit meiner Familie und meinen Freund*innen spreche. Dieser Akzent ist anders als der Damaszener-Akzent, in dem ich mit Fremden spreche. Ich spreche manchmal im Damaszener-Akzent, um keine Vorurteile und Diskriminierung zu erleben. Meine Sprache kommt aus Golan. Als Israel 1967 Golan übernommen hat, wurden viele Bewohner*innen vertrieben und kamen nach Damaskus oder in die Nähe von Damaskus. Sie lebten dort in Slums und die Leute wurden und ließen sich nicht richtig integrieren. Deswegen ist es fast zum Lachen, dass ich wieder ein Vertriebener bin. Denn ich war schon für viele Damaszener ein Vertriebener, weil meine Eltern Vertriebene waren und damit auch ich nicht zu Damaskus gehören durfte. Und nun bin ich es zum zweiten Mal. Aber diesmal bin ich wegen des Krieges, der mich aus dem ganzen Land vertreibt, geflüchtet.  Meine zweite Muttersprache ist Hocharabisch,

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Kategorie & Format
Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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