Während ich diesen Text schreibe, sitze ich im Zug nach Berlin. Ich fahre nach Hause, zu meiner Familie in Berlin, um gemeinsam mit ihnen das Ende des Fastenmonats Ramadan zu feiern. Normalerweise kommentieren Hussam, Natalia und ich in dieser Kolumne das aktuelle Geschehen aus unserer Perspektive zu Themen um Flucht und Migration. Und auch diese Woche hätten wir über europäische Abschottungspolitik schreiben können oder über Todeszahlen im Mittelmeer. Doch vielleicht halten wir auch kurz in dieser Kolumne inne, denn schließlich ist heute Feiertag.
Zur Ramadan-Zeit fühle ich mich besonders mit meiner Familie und meiner Religion verbunden. Doch seitdem ich ausgezogen bin, empfinde ich auch eine gewisse Distanz und Isolation. Denn ich habe hier kaum Anschluss an muslimische Communities, kenne die Moscheen nicht und erwische mich häufig dabei, vor diesen Kontakten zurückzuscheuen. Vielleicht weil ich nicht 30 Tage am Stück faste, vielleicht weil ich in einem sehr weißen und christlich geprägten Umfeld aufgewachsen bin und vielleicht weil ich mich oftmals unsicher oder nicht so gefestigt in meinem Glauben fühle.
Ramadan ist für viele Muslim*innen eine sehr besondere Zeit, in der sie sich ihrem Glauben und sich selbst widmen. Es ist für viele Muslim*innen aber auch eine Zeit, in der sie sich besonders einsam, schuldig oder verwirrt fühlen.
Ich habe Ramadan noch nie in Pakistan, dem Herkunftsland meiner Familie, verbracht. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn alle Menschen um einen herum fasten. Wenn Arbeitszeiten an die Fastenden angepasst werden und gemeinschaftlich bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gegessen wird. Seitdem ich denken kann, ist Ramadan und Zuckerfest etwas, was wir irgendwie noch nebenbei unterkriegen mussten. Mindestens eine Person musste immer arbeiten, konnte die Mathe-Prüfung nicht verpassen oder hatte sonstige Verpflichtungen.
Es ist Zeit, dass muslimische Identitäten in Deutschland in ihrer Komplexität wahrgenommen werden
Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich heute ein sensibles Umfeld habe. Dass ich mich nicht großartig erklären muss und solche Fragen wie „Nicht mal Wasser?“ schon lange nicht mehr gehört habe. Und dass wir bei kohero ganz selbstverständlich gemeinsam Iftar machen und an Eid nicht arbeiten werden. Ich weiß, dass dies nicht der Normalfall ist. Und dass, obwohl immer mehr muslimisch sozialisierte Menschen in Deutschland leben.
Wie kann es sein, dass in NRW die Abiturprüfungen spontan auf Eid verlegt werden, ohne jegliche Rücksichtnahme auf muslimische Schüler*innen? Wie ist es möglich, dass viele Arbeitnehmer*innen sich nicht frei nehmen können, um bei ihren Familien zu sein? Und dass Medien bei ihrer Berichterstattung über den Fastenmonat Muslim*innen immer noch ausschließlich mit Bart oder Kopftuch darstellen?
Es ist Zeit, dass muslimische Identitäten in Deutschland in ihrer Komplexität wahrgenommen werden. Und dass die Lebensrealitäten, Forderungen und Bedürfnisse dieser Menschen in ihrer Heterogenität ernst genommen werden. Dafür braucht es auch öffentliche Auseinandersetzungen mit Widersprüchen, Unsicherheiten und Gegensätzen innerhalb der muslimischen Communities. Ich hatte lange große Hemmungen, über Religion zu sprechen. Aus Angst, etwas falsches zu sagen oder verurteilt zu werden. Aber inzwischen merke ich, wie wichtig es ist, offener damit umzugehen und unterschiedliche Ansichten auszuhalten.
Dieses Jahr werde ich gemeinsam mit meiner Familie an Eid zum Gebet gehen. Wir werden pakistanisches Essen essen, Freund*innen besuchen und uns vielleicht Henna malen. Wir werden am Samstag aber auch zu einem Fundraiser-Event für Betroffene von den Fluten in Pakistan gehen, bei dem Aktivist*innen und Künstler*innen sich mit den Auswirkungen der Klimakrise befassen. Denn auch wenn wir in der Diaspora Einsamkeit und Zerstreuung erleben, leben wir doch in vielerlei Hinsicht deutlich privilegierter. Sich damit an einem Fest zu befassen, was für Gemeinschaft, Familie und Solidarität steht, könnte meiner Meinung nach nicht passender sein.