„In der Debatte um Marokko gewinnt der Eurozentrismus“

Rassistische und anti-muslimische Narrative sind in der Berichterstattung über den Erfolg der marrokanischen Fussballmannschafft häufig anzutreffen. In der Debatte darüber werden andere Widersprüche im Umgang mit Machtverhältnissen jedoch ignoriert. Sarah Zaheer mit einem Kommentar über Eurozentrismus im Hinblick auf politische Konflikte.

Die Berichterstattung über die marokkanische Fußballmannschaft ist geprägt von rassistischen Narrativen. Doch zu feiern, dass Marokko Kolonialmächte besiegt hat, um bis ins Halbfinale zu kommen, verschleiert ebenfalls Machtdynamiken.

Marokko schrieb Fussballgeschichte

Am Mittwochabend spielte Marokko als erstes afrikanisches Land im Halbfinale – und schrieb somit Geschichte. Das selbstverständliche Ausüben von muslimischen Praktiken und das Hochhalten von palästinensischen Flaggen schien dabei  jedoch einige Sportjournalist*innen zu überfordern. Denn schon seit Beginn der WM wurden rassistische und anti-muslimische Narrative in der Berichterstattung bedient.

So bezeichnete Die Welt die unter Muslimen verbreitete Geste des ausgestreckten Zeigefingers Richtung Himmel, die mehrere marokkanische Spieler machten, als Zeichen des sogenannten „Islamischen Staates“ und setzte somit mal wieder den Islam mit Terrorismus gleich. Ein Autor der taz ist der Meinung, das alleinige Hochhalten der palästinensischen Flagge nach dem Spiel gegen Spanien sei antisemitisch. Dass Palästina schon seit 1998 Teil der FIFA ist und eine Zweistaatenlösung noch immer das international angestrebte Ziel ist, lässt er dabei unerwähnt.

Der Eurozentrismus gewinnt

Und in einem Artikel-Vorspann der ZEIT heißt es, die Marokkaner hätten gewonnen, da sie ja schließlich „das europäischste Land Afrikas“ seien. Im Artikel selbst wird klargestellt, dies sei „fußballerisch betrachtet“, da so gut wie alle Spieler in europäischen Clubs spielen und „Flüchtlingskinder“ seien. Diese Anspruchshaltung, diesen Gewinn irgendwie für sich zu behaupten zu wollen, stößt dennoch bitter auf.

In der Debatte um Marokko gewinnt der Eurozentrismus. Und das nicht nur in den Äußerungen von weißen Journalist*innen – sondern auch in migrantischen Kreisen hier. Obwohl Marokko als afrikanisches Land nun um den dritten Platz kämpft, fühlen sich vor allen Araber*innen und Muslime mit ihnen verbunden. Ich kann die Genugtuung sehr gut verstehen, wenn eine Kolonialmacht nach der nächsten an Marokko scheitert.

Doppelmoral

Auch, dass es insbesondere für Kinder von muslimischen Migrant*innen ein herzerwärmender Anblick ist, wenn Fußballspieler Sofiane Boufal nach dem Viertelfinalspiel mit seiner Mutter auf dem Spielfeld tanzt, kann ich nachempfinden. Für viele ist es auch ein besonderer Moment, die palästinensische Flagge auf dieser internationalen Bühne zu sehen – ein offenes Zeichen der Solidarität, wie man es gerade in Deutschland kaum findet.

Doch dabei wird schnell übersehen, dass sich die marokkanische Mannschaft eben nicht in diesem Kontext bewegt. Für sie ist es kein revolutionärer Akt, Solidarität mit Palästina zu bekunden. Im Gegenteil, es strotzt vor Doppelmoral.

Denn revolutionär wäre es, wenn sie die Flagge der Westsahara hochhalten würden. Der marokkanische Staat verhindert ein von der UN gefordertes Referendum, was den in der Westsahara lebenden Sahrauis ihr Selbstbestimmungsrecht gewähren könnte. Seit dem Abzug der Kolonialmacht Spaniens beansprucht und annektiert Marokko das Gebiet größtenteils.

Widersprüche thematisieren

2020 erkannte der marokkanische Staat Israel als Staat an. Im Gegenzug erkannten die Vereinten Nationen Teile der Westsahara als marokkanisches Staatsgebiet an. Wo ist hier die Solidarität mit unterdrückten Bevölkerungsgruppen?

Es muss möglich sein, Widersprüche zu thematisieren. Zu thematisieren, dass Länder wie Marokko kolonialisiert und kolonisierend gleichzeitig sein können. Dass Menschen aus Nordafrika hier in Europa Rassismus erfahren und gleichzeitig Schwarze Menschen in der Region diskriminiert werden.

Und es muss möglich sein, islamfeindliche Narrative in Hinblick auf den Katar-Worldcup anzusprechen und gleichzeitig anzuerkennen, dass insbesondere muslimische Einwanderer aus Südasien beim Bau der Stadien gestorben sind. Dass es oft gerade Muslime sind, die in den Golfstaaten ausgebeutet werden. Am Ende profitiert nämlich niemand davon, wenn diese verschiedenen Dimensionen verschleiert werden.

Die WM ist bald vorbei. Doch die politischen Konflikte, die vielschichtigen Identitäten und auch die rassistischen Narrative werden bleiben. Sich mit ihnen zu befassen und sich frei von der eurozentrischen Sichtweise zu machen, sollte unsere gesellschaftliche Aufgabe sein.

 

 

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