In den letzten Monaten wurde unendlich viel über das Thema Integration gesprochen. Einerseits wegen der damals anstehenden Bundestagswahl, obwohl sich mittlerweile alle Debatten darüber wieder in Luft aufgelöst haben. Andererseits wegen der Situation in Afghanistan, wo die größte humanitäre, politische Krise der letzten Jahre auf die Frage „Wie viele Flüchtlinge kann oder soll Deutschland aufnehmen?“ reduziert wurde.
Konzept Integration
Es gibt mehrere Punkte, weshalb ich mittlerweile das Konzept „Integration“ problematisch finde. Beim ersten Grund geht es um die Menschen, die integriert werden sollen. Dazu stellt sich für mich die Frage: Wie werden sie dargestellt und wo bleibt deren Stimme in den ganzen Debatten? Der zweite Punkt ist etwas Persönliches: Es hat mit dem Anpassungsdruck zu tun, den ich als Migrantin erlebt habe. Und den Lehren, die ich aus diesem „Integrationsprozess“ gezogen habe. Der letzte und dritte Grund ist, wie dieses Konzept unsere Unterschiede mit etwas Negativem in Zusammenhang bringt und somit als etwas Abweichendes verfestig.
Integration und das „größere Ganze“
Im Duden findet man drei verschiedene Definitionen von Integration. Die erste bedeutet „Einbeziehung, Eingliederung in ein größeres Ganzes”. Diese finde ich am passendsten zu diesem Artikel. Allerdings wäre die dritte Definition, welche aus der Soziologie stammt, die plausiblere Wahl: „Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit”. Es gibt also eine wahrgenommene kulturelle Einheit, in welche viele integriert werden sollen. Aber die Bedeutung dieses Begriffs soll nicht die gleichberechtigte Verbindung einer Vielheit von Gruppen darstellen. Vielmehr soll sie die Anpassung anderer Gruppen zu einer dominanteren Mehrheit verdeutlichen.
Was in mir jedoch noch größere Empörung auslöst, sind alle Situationen in denen Integration thematisiert wurde und wird. Als ginge es hier darum, einen namenlosen Teig zu formen. In medialen Auseinandersetzungen zum Thema Migration und Flucht moderieren oft Menschen, die selbst vom Druck der Integration nicht betroffen sind. Die Betroffenen selbst, ihre Erfahrungen und individuellen Wahrnehmungen werden übergangen. Stattdessen geht es oft um die Frage, wie gut sich dieser „fremde Teig“ nicht nur an unsere Sprache, aber auch an unserer Lebensform und Werte anpassen kann. Wessen „Lebensform und Werte“ diese sind, wird nicht definiert, aber angedeutet. Denn das größere Ganze ist ein omnipräsentes Konzept von „wahrer deutscher Leitkultur“. Dennoch, so selbstverständlich wie es zunächst klingt, steckt auch ein sehr abstraktes Konzept dahinter.
Ein unerfülltes Versprechen
In der ersten Definition blieb das „größere Ganze“ unklar und passt somit perfekt in diese Debatte. Denn im Fall von gesellschaftlicher Integration bleibt ebenfalls das größere Ganze, ich möchte fast sagen der integrative Leitfaden, auch unheimlich vage. Soll es etwa „die deutsche Kultur“ sein? An welchen Standards wird diese Integration bemessen? Auf mich wirkt es wie ein Prozess, dessen Ziel die Eingliederung in die „deutsche“ Gesellschaft verspricht. Dieses Versprechen bleibt meistens unerfüllt, denn selbst die am besten integrierten Menschen erfahren Rassismus und Diskriminierung. Hierbei hilft selbst der deutsche Pass häufig nicht.
Der Wert eines Menschen
Das Erlernen der deutschen Sprache ist nach wie vor eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine deutsche Staatsbürgerschaft und eines der höchsten Ziele von staatlichen Integrationsprojekten. Es ist aber zeitgleich auch eine der größten Hürden mit der Migrant*innen aller Generationen und Geflüchtete konfrontiert sind. Die Erwartungshaltung geht über das Bedürfnis hinaus, ein Grundverständnis zwischen den Menschen dieses Landes zu etablieren. Der Wert eines Menschen wird an seiner Fähigkeit gemessen, sich diesen Anforderungen anzupassen.
Je nachdem in welchen Kreisen man sich bewegt, ist ein akzentfreies Deutsch und eine möglichst fehlerfreie Schreibweise überlebenswichtig – von Stellenausschreibungen mal ganz abgesehen. Was, wenn meine Arbeitgeber*innen merken, dass ich nicht gut auf Deutsch schreiben kann? Ich lerne Deutsch schon seit 15 Jahren und muss trotzdem immer wieder meine E-Mails von meinen Kolleg*innen korrigieren lassen. Ich bin dankbar, wenn selbst die kürzesten Nachrichten durchgelesen werden.
Warum muss ich mich schämen?
Ich lernte schnell, stolz zu sein über Momente, in denen es mir gelang, einen fehlerfreien Text ohne Unterstützung zu verfassen oder meinen Akzent vollständig zu verstecken. In solchen Momenten fühlte ich mich zugehörig, als wäre ich endlich kurz vor dem Ziel, als offiziell „deutsch“ zu gelten. Meist war diese Freude aber von kurzer Dauer. Denn immer folgte auf Lob für mein akzentfreies Deutsch direkt im Anschluss die Frage nach meiner Herkunft. Ich schwankte zwischen dem Versuch, meiner Geschichte als Ecuadorianerin treu zu bleiben, und meinem Bedürfnis, mich anpassen zu wollen, was häufig in Frustration endete. Warum muss ich so viele Teile meiner Identität leugnen, als wären sie etwas Schlechtes, etwas wofür ich mich schämen müsste?
Unterschiede akzeptieren und feiern
In meiner Wut fand ich oft Trost in den Arbeiten von BIPoC-Autorinnen wie Audre Lorde. In ihren Texten fand ich die Sprache, die mir fehlte, um meine Empörung in Worte zu fassen. Mein Lieblingsessay ist „Die Werkzeuge des Herrn werden niemals das Haus des Herrn niederreißen“. Darin schreibt sie unter anderem über die Notwendigkeit der Anerkennung von Unterschieden als essenziell für die feministische Bewegung. Sie erklärt, dass unsere Differenzen keine Bedrohung darstellen. Die Akzeptanz dessen ist sogar der Grundstein eines solidarischen Miteinanders zwischen Frauen*. Ihrer Meinung nach darf Gemeinschaft nicht bedeuten, dass wir unsere Unterschiede aufgeben, aber wir dürfen nicht so tun, als würden diese Unterschiede nicht existieren.
Differenzen wirken nicht selten bedrohlich. Der Drang nach einer Vereinheitlichung durch eine Integration „in das größere Ganze“ verdeutlicht diese Angst vor Veränderung und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Geschichten und Lebensweisen. Ich zweifle, dass rund 80 Mio. Einwohner*innen Deutschlands sich jemals auf eine einzige Definition einigen können, was das „Deutschsein“ bedeutet. Dennoch hängen so viele an dieser Idee einer einheitlichen Kultur. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Vor allem gehört der Einfluss migrantischer Communities unweigerlich zur Konstruktion dieser deutschen „Einheit“. Trotzdem wird ihre geleistete Arbeit in verschiedenen Bereichen, wie Kultur und Politik, außer Acht gelassen. Ihre Errungenschaften werden nur abgesondert erwähnt. Dadurch gehen unsere gesellschaftlichen Beiträge verloren und Menschen, die neu ankommen, müssen von ganz vorne anfangen, gefangen zwischen hohen Erwartungen und Intoleranz. Dabei sind wir auch ein Teil der deutschen Geschichte und gehören mit allen Ecken und Kanten dazu. Wie Audre Lorde sehr zu Recht sagte:
„Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede anzuerkennen, zu akzeptieren und zu feiern.“
Goodbye Integration
Wenn ich nicht ändern kann, was Integration bedeutet und wie darüber gesprochen wird, dann möchte ich mich wenigstens von diesem Schamgefühl befreien, das mich so lange begleitet hat. Ich möchte lernen, auf andere Sachen stolz zu sein als eine fehlerfreie Aussprache. Ich will stolz auf meinen Akzent und die Kasus-Fehler sein, die sich immer wieder in meine Texte einschleichen. Darauf, dass ich immer wieder unabsichtlich neue Wortkombinationen erfinde, die keiner kennt. Ich möchte mich nicht länger anpassen müssen, um dazugehören zu dürfen. Unsere Unterschiede gehören zu Deutschland wie wir, es ist das, was uns verbindet. Sie sollen gefeiert und nicht dämonisiert werden.
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