Als ich Ende 2015 in Deutschland angekommen bin, habe ich mich entschieden, dass ich hier in die Gesellschaft integriert, und auch ein engagiertes Mitglied sein möchte. Mein erster Schritt war, mit Unterstützer:innen zusammen das kohero Magazin (damals noch Flüchtling Magazin) zu gründen. Ende 2017 erlebte ich aber einen Schockmoment. Ich habe zum ersten Mal eine unschöne Seite der deutschen Gesellschaft (wie ich sie damals kannte) gesehen. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft fühlte ich mich unsicher in Hamburg.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich nur wenig Kontakt mit anderen Syrer:innen oder arabischsprachigen Menschen, was vielleicht einige überraschen mag. Es wird ja oft über Geflüchtete und Migrant:innen gesagt, sie „bleiben unter sich“ in Deutschland, als ob das automatisch etwas Schlechtes ist. Ich war zu der Zeit sehr mit dem Aufbau meines Magazins beschäftigt und arbeitete 99% der Zeit mit Deutschen und deutschsprachigen Kolleg:innen. Es kam alles so zusammen, dass ich plötzlich ein tiefes Fremdgefühl spürte und meine Muttersprache, Arabisch, sehr vermisste.
Sprache ist zum Beschreiben, zum Träumen, zum Nachdenken, zum Austauschen, zum Erinnern und und und…
Ich habe mich damals mit diesem Gefühl beschäftigt, weil es auch für mich neu war. 2014 musste ich aus meinem Heimatland Syrien flüchten, warum also fühlte ich drei Jahre später diesen Wunsch nach meiner Muttersprache? Ich habe auch versucht, ein Wort auf Deutsch zu finden, was mein Gefühl beschreibt. Weil ich viel an Heimweh gedacht habe, kam ich dann auf Sprachweh. Ich hatte Sprachweh.
Ich verstehe Heimweh so, dass ein Mensch die eigene Heimat so stark vermisst, dass es zu einer Sehnsucht wird. Sprachweh bedeutet für mich, wenn ich viel an meine Muttersprache denken muss und sie so sehr vermisse, weil es keinen Ort hier für mich gibt, die Sprache zu erleben. Ich brauche Sprache, um Worte auszudrücken, aber ich brauche sie auch noch für viel mehr: Sprache ist zum Beschreiben, zum Träumen, zum Nachdenken, zum Austauschen, zum Erinnern und und und…
Meiner Meinung nach kann auch ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht ohne Sprache funktionieren. Freundschaften funktionieren selten ohne Sprache. Sich zu verlieben und eine Beziehung zu führen, braucht eine gemeinsame Sprache. Die jüdische, deutsche Denkerin Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland flüchten musste, schrieb kurz nach ihrer Ankunft in New York: „Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ Ich weiß nicht, ob Menschen mit einer Muttersprache und einer Heimat sich vorstellen können, wie es ist, mehrsprachig durch den Alltag zu gehen. Du kannst keine schnellen Witze mehr erzählen, da muss erst jedes Wort vorsichtig im Kopf übersetzt werden. Zwei Verliebte können das gleiche Lied hören, aber nur eine:r versteht die Bedeutung.
Um mein Sprachweh auszudrücken, habe ich 2019 angefangen, auf meinem Instagram ein paar meiner syrisch-arabischen Lieblingsworte zu übersetzen. Ich veröffentliche die Worte mit dem Versuch, ähnliche Worte auf Deutsch zu finden und damit meinen deutschen Freund:innen, Kolleg:innen, Bekannten und meiner zukünftigen Schwiegerfamilie auch mehr von meiner Muttersprache zeigen zu können. Gleichzeitig konnte ich mich auch wieder mit meiner Muttersprache beschäftigen.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“
Mit der Zeit konnte ich viel Vertrauen in die deutsche Gesellschaft zurückgewinnen und fühlte mich weniger fremd als damals, vor drei Jahren. Ich denke, ich kann heute ein größeres Bild sehen und erkennen, dass die deutsche Gesellschaft (und ihre Sprache) aus Menschen besteht, die Geflüchtete willkommen heißen und ihnen damals und heute sehr viel helfen. Und es gibt auch Menschen, die sich laut und aggressiv gegen Geflüchtete (und Migration allgemein) stellen. Dann gibt es noch sehr, sehr viele Menschen, die irgendwo in der Mitte stehen und nicht die Zeit oder das Interesse haben, sich mit Flucht und Migration zu beschäftigen.
Dazu kommt auch, dass ich mir selbst neue Wege gesucht habe, mit meiner Muttersprache in Kontakt zu bleiben. Ich höre viele arabischsprachige Podcasts und ich habe meine Social Media Communities heute mehr gemischt. Ob das mein Sprachweh wirklich stillen kann, kann ich noch nicht sagen. Aber es zeigt mir, dass ich es schaffen kann, in zwei Sprachwelten zu leben. Ich möchte mit einem Zitat von Ludwig Wittgenstein enden: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“