Gestapelte Frauen – eine Buchbesprechung

Erschütternd, aufrüttelnd, kaum auszuhalten in seiner Grausamkeit. Der Roman "Gestapelte Frauen" verstört - und öffnet den Blick. Mit ihren intensiven Recherchen stößt die Autorin ein Nachdenken über Gewalt an Frauen an, wie sie nicht nur in exotischer Ferne verübt wird. Bei allem Schrecken ist das Buch ein Plädoyer für Achtsamkeit und Respekt im Miteinander der Geschlechter (m/w/d). Denn: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Gestapelte Frauen – ein phantastischer Roman? Nein und ja.

Nein, weil er nicht der Phantasie der Autorin entspringt, sondern weil sie Fakten auf die Seiten bringt. Die allerdings sind von einer Romanhandlung umhüllt.
Ja, weil er den Leserinnen und Lesern eine Welt jenseits der eigenen Erfahrungswelt bietet. Ein unglaubliches Menü, das aus testosteron-geschwängerten Grausamkeiten, Verachtung und Hass besteht.

Die Kapitel des Romans folgen dem lateinischen Alphabet. Sie haben jeweils einen nummerierten Vorspann, der in Kurzform ein Opfer, eine Tat erzählt. Für die Trancen und Träume im Urwald unter Ayuhasca oder ähnlichen Tränken benutzt die Autorin das griechische Alphabet. Alpha bis Eta.

Der Roman beginnt mit einer Ohrfeige, ein männlicher Schlag in ein weibliches Gesicht. Jurist gegen Juristin. Und enthüllt somit sogleich die Mär, dass nur Männer der unteren Schichten Schläger seien. Amir ist Jurist wie die Ich-Erzählerin, ein schillernder schubladenloser Typ, der seine Doktorarbeit über Wittgenstein geschrieben hat.

Gewalttäter aus allen Kreisen der Gesellschaft

Die Erzählerin wird von ihrer Kanzlei in Sao Paulo nach Cruzeiro do Sul, einer Stadt der Provinz Acre im Südwesten des brasilianischen Amazonas geschickt. Als Beobachterin und Berichterstatterin der Gerichtsverfahren in den gehäuften und meist ungelösten Fällen von Tötungsdelikten, deren Opfer Frauen sind. Ihre Chefin plant ein Buch über die Femizide des Landes, um die Rolle des Staates als auch die tötungsfördernde Pornographie, insbesondere Snuffs, aufzudecken.

Im Rahmen dieser Untersuchung soll die Autorin jeden interviewen: Mörder, Staatsanwälte, Richter, Verteidiger, Ermittler, Zeugen und überlebende Opfer und Angehörige. Und eines offenbart sich klar und deutlich: die Schläger, die Mörder, die Gewalttäter sind Männer aus allen Kreisen der Gesellschaft: Soldaten, Handwerker, Bauern, Beamte, Studenten, Analphabeten oder Akademiker. Sie sind Ehemänner, Freunde, Liebhaber, Brüder, Väter, Stiefväter, Schwager, Nachbarn. Sie sind fast immer weiß. Diese Männer stilisieren sich selbst zu Opfern: die Frauen würden sie provozieren, ihnen das Leben zur Hölle machen, sie herabsetzen, betrügen, sie ausbeuten und aussaugen, sie überfordern. Die meisten lernen den Hass und die Verachtung durch den Vater Staat, den Markt, die Kultur, die Werbung und durch die Pornografie, die ein Big Business ist.

Die Leiche eines gefolterten und vergewaltigten indigenen Mädchens wird abgelegt im Flussschilf gefunden. Auf dem Rücken im Wasser treibend, geknebelt, mit abgeschnittenen Brustwarzen und Glasscherben in der Vagina. Die drei angeklagten jungen Männer gehören zur Hautevolée des Ortes und werden selbstverständlich freigesprochen. Denn Eingeborene sind keine wirklichen Menschen und Frauen noch weniger.

Gejagt, getötet, versklavt

Schon bei der Eroberung des Landes durch die Kautschukpflanzer, die Goldsucher und die Holzfäller waren die Eingeborenen Opfer: Sie wurden gejagt, getötet, vertrieben, versklavt. Die Öffentlichkeit solidarisiert sich mit den drei jungen Männern, denn diese waren Söhne und Enkel der „Eroberer“ und standen sozusagen außerhalb des Gesetzes. Eine Reportage der mutigen Chefredakteurin Rita vom Diario da Estrella über das Leben der drei Playboys kostet sie das Leben. Erst später findet ihr Bruder das Handy des indigenen Opfers mit einem gefilmten Beweis der Verstrickung der drei in das Drogengeschäft. Auch die drei jungen Täter ereilt ihr Schicksal. Die weitere weibliche Darstellerin in diesem erschütternden Roman ist Carla, eine Staatsanwältin. Auch sie findet ein tragisches Ende.

Eingebettet in diese eindringlichen Mordfälle sind die schamanistischen Reisen der Erzählerin, die durch eine Verwandte von Marcos, einem Halbindio, initiiert werden. Zapira, der es gelang, die Männerdomäne des Schamanentumes ihres Stammes, zu durchbrechen, lässt sie durch Ayahuasca in Traum- und Wachhalluzinationen das Unsichtbare und das Verborgene sehen in einem Kreis von Frauen, mit Vogelfedern geschmückt. Frauen mit Kriegswaffen, Frauen mit nackten Brüsten, mit welken und knospenden, mit hängenden, mit üppigen und flachen, mit tropfen- oder glockenförmigen. Die Frau der Grünen Steine ist ihre Anführerin.

Warum töten wir Frauen nicht?

Das sei ein Krieg, ein Gemetzel, eine Epidemie. Und sie stellt die Frage: Warum töten wir Frauen nicht? Sind es die anders komponierten Hormone, die gesellschaftlichen Strukturen, die weichere Physis oder weil wir Trägerinnen des Leben sind? Denn die Männer töten nicht nur uns, sie töten die Tiere, die Flüsse, die Wälder und die Meere. Sie töten das Leben.

Die Erzählerin kann sich aus der eigenen Verstrickung lösen, denn die Ohrfeige leitet eine Art Erweckungsprozess ein. Und holt Verdrängtes ans Tageslicht: dass die eigene Mutter ermordet wurde. So beginnt sie ihr Aufklärungs-Projekt: aus gesammelten Fotos und Aufzählungen der Mord- und Folterwerkzeuge, der verunstalteten Körperteile stellt sie ihre Website zusammen: gestapeltefrauen.com

Am Schluss des Buches tanzt sie sich frei.

Eine erschreckende Lektüre, bei der Mann/Frau sich schütteln möchten, mit offenem Mund und einem Fragezeichen im Gesicht: Ist das möglich? Kann das wahr sein?

Femizide sind kein „exotisches“ Problem

Die Leserschaft darf jedoch nicht ansatzweise denken, dass Femizide ein „exotisches“ Problem seien. Auch in unseren so westlich aufgeklärten Staaten und Gesellschaften sind Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen alltäglich. Die in den Medien so hoch gespielten „Ehrenmorde“ rückständiger patriarchalischer Kulturen verdecken die subtil verpackten gewalttätigen Machtstrukturen in den Villen und Reihenhäusern. Geschieht all das im „Hier und Jetzt“, in diesen modernen Zeiten? Oder gerade, weil wir in modernen Zeiten leben?

Patricia Melo gebührt großer Dank für ihre augenöffnende Arbeit und ihre intensiven Recherchen, die uns allen, Frauen wie Männer, zum Nachdenken und Handeln anregen und zwingen sollte. Sie ist ein Kompass durch den Dschungel, dem männlichen mit seinen „Testosteronalien“ und dem grünwuchernden des Amazonas und der Amazonen, einer bald verlorenen Welt.

Das Buch ist ein Plädoyer für Achtsamkeit im Miteinander der Geschlechter (m/w/d). Und für Respekt im Sinne von Kants Kategorischem Imperativ. Denn: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

 

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