Seit August lässt die belarusische Regierung Migrant*innen aus verschiedenen Ländern nach Minsk fliegen, damit sie über die dortige Grenze in die EU gelangen können. Doch sie sind in Polens Wäldern gestrandet, weil sie abgewiesen wurden und Belarus ihnen die Rückkehr verweigert. Viele geflüchtete Menschen kamen bereits wegen der eisigen Temperaturen ums Leben.
Unter den Migrant*innen sind viele Frauen und Kinder. Sie werden als Spielfiguren in einem politischen Spiel zwischen Belarus und der EU verwendet. Damit will der autoritär regierende Staatschef Lukaschenko offenbar Druck auf die EU ausüben. Diese hatte wegen der Unterdrückung der Demokratiebewegung Sanktionen gegen Belarus verhängt.
Die Situation an der Grenze ist erschreckend. Die Journalistin Emmanuelle Chaze, Korrespondentin der France24 und DW in Berlin berichtet im Gespräch mit kohero: „Ich habe schon viel über Migration berichtet und war damals auch bei Seenotrettungen an Board, bei See Watch und SOS Mediterranee. Allerdings war ich an der Grenze zwischen Polen und Belarus wirklich schockiert. Es gibt keinen Zugang zu den Menschen an der Grenze.“
Anfang September hat die polnische Regierung den Ausnahmezustand an der Grenze erklärt. Außerdem wurde von den polnischen Sicherheitskräften eine 3 Kilometer lange NoGo-Zone eingerichtet. In der Zone sind humanitäre und medizinische Hilfe verhindert worden. Zudem dürfen unabhängige Journalist*innen nicht in das Gebiet eintreten. „Das finde ich insbesondere deshalb gefährlich, weil man mit den Menschen in der Zone nicht in Kontakt treten kann“, sagt Chaze. „Die einzige Möglichkeit, von den Ereignissen in dem Gebiet zu erfahren, ist von den Migrant*innen, die beschlossen haben, sie durchzugehen, um ihren Weg in die EU fortzusetzten“, ergänzte sie.
Legale Reise nach Minsk
Dem Regime von Alexander Lukaschenko wird vorgeworfen, dass es gezielt Migrant*innen ins Land holt, um sie dann zur Weiterreise in die EU an die Grenze zu Polen zu bringen. „Migranten fliegen ganz legal mit Visum aus Istanbul, Damaskus und anderen Städte nach Minsk. Das Visum wurde durch dritte Parteien wie z.B. Flug- und Reisegesellschaften vermittelt“, erklärt die Journalistin. Einmal in Minsk angekommen, werden die Migrant*innen sofort von den belarussischen Sicherheitskräften an die EU-Grenze getrieben. „In den Wäldern haben wir Unterlagen von Asylsuchenden gefunden. Diese zeigen, das sie ein normales Visum nach Minsk hatten. Allerdings ist unklar wie Asylsuchende es organisieren, an der Grenze weiterzugehen. Aber nach meinen Informationen verhindern die belarussischen Sicherheitskräfte keine Reise aus Minsk an die Grenze zu Polen“, so Chaze.
Festsitzen an der Grenze
Diese Menschen sind in Polens Wäldern gestrandet, weil das Land sie ausgewiesen hat und Belarus ihnen die Rückkehr verweigert. Aus diesem Grund sitzen sie ohne Nahrung und Wasser im Niemandsland fest. Darüber hinaus werden sie mit erneuten Push-Backs von beiden Seiten gefordert, an die Grenze des jeweils anderen Landes zu gehen. Und das, obwohl Polen und Belarus 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben haben.
„Zurzeit gibt es nach polnischen Angaben mehr als 3.000 Asylsuchende an der Grenze. Und Polen selbst hat darüber berichtet, dass das Land hunderte Menschen nach Belarus zurückgeschickt hat. Das ist ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Diese Push-Backs von beiden Seiten sind nach internationalem Recht völlig illegal“, so Chaze.
Keine humanitäre und medizinische Hilfe
Polen verweigert auch unabhängigen Mediziner*innen weiterhin die Versorgung von Migrant*innen an der EU-Außengrenze zu Belarus. Obwohl dutzende Menschen dort dringend medizinische Hilfe benötigen. Gegenüber kohero äußert sich Journalistin Emmanuelle Chaze zur humanitären Lage in der Region: „In dem Gebiet gibt es keine humanitäre Hilfe und das ist meiner Meinung nach unmenschlich. Diese Menschen sitzten dort fest, sie haben Hunger und kein Wasser. Die Temperaturen sinken immer weiter, Menschen dort sind schutzlos gegen die Kälte. Trotz dieser Lage dürfte keine Hilfsorganisation in die Zone eintreten.“ Angesichts dieser schwierigen Lage haben die Vereinten Nationen am 9. November Unterstützung für die Migrant*innen angeboten. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die Internationale Organisation für Migration wollen dort humanitäre Hilfe leisten.
Die Lage an der östlichen EU-Außengrenze ist in den letzten Tagen dramatisch eskaliert, als Hunderte Migranten versuchten, die Zaunanlage zu durchbrechen. Sie wurden allerdings von den polnischen Sicherheitskräften davon abgehalten (Anm.d.Red.: Inzwischen haben mehrer Gruppen von Migrant*innen die Grenzen durchbrochen. Sie wurden wieder ausgewiesen, einige wurden festgenommen.). Trotzdem konnten etliche Menschen den Zaun verlassen und in Polen ankommen.
Chaze hat einen 14-jährigen Syrer in Polen getroffen, der drei Wochen lang am Zaun blieb. Er berichtete von mindestens drei Leichen, die er in dem Wald gesehen hat. „Ich habe ihn vor einem Krankenhaus in Polen kennengelernt. Er wartete auf seinen Vater, der sich zuvor im Wald verletzte. Er hatte Angst, dass Polen sein Vater nach Belarus zurückbringt, sobald er aus dem Krankenhaus kommt.“
Grünes Licht
Viele der geflüchteten Menschen setzen sich selbst der Gefahr aus, indem sie bei eisigen Temperaturen in den Wäldern bleiben. Aus Angst, nach Belarus zurückgeschickt zu werden, bitten sie Einheimische nicht um Hilfe. Daher hat ein polnischer Anwalt die Initiative „Grünes Licht“ gegründet. Ziel der Initiative sei es, Migrant*innen auf dem Weg zu unterstützen. Die Initiative fordert die Bürger*innen im Grenzgebiet auf, ein grünes Licht einzuschalten, um den Migrant*innen ihre Absicht zu signalisieren, Unterkunft, Kleidung und Nahrung zu bieten. Es geht ausßerdem daru, den Asylsuchenden zu zeigen, dass dieses Zuhause mit dem grünen Licht für sie ein sicherer Hafen ist.
Theoretisch besteht die gesetzliche Verpflichtung darin, Asylsuchende aufzunehmen und menschnenwürdig zu behandeln. Tatsächlich sind derzeit Tausende Menschen zwischen den beiden Ländern gestrandet und werden von Seite zu Seiten gedrängt. Wer Kraft und etwas Glück hat, durchquert die Teiche, Wälder und eisigen Nächte Osteuropas. Der Rest, darunter Hunderte alte Menschen, Frauen und Kinder, sind dazu verdammt, diese feindliche Umgebung zu durchstreifen und vielleicht nie in Sicherheit anzukommen.