Herr Diab, welche Angebote für Geflüchtete gibt es am Zentrum ÜBERLEBEN?
Unsere therapeutischen Angebote – die Tagesklinik, die ambulante Abteilung für Erwachsene und die Kinder- und Jugendabteilung – sind für Geflüchtete gedacht, die in ihrem Heimatland oder während der Flucht Folter, Verfolgung, Krieg oder Menschenhandel erlebt haben und infolgedessen psychische Belastungen in Form von Trauma und Traumafolgestörungen erlitten haben.
Die Berufsfachschule Paulo Freire und die Abteilung für Flüchtlingshilfen können wiederum eine deutlich breitere Gruppe von Migrant*innen und geflüchteten Menschen bedienen. Dort werden Sprach- und Computerkurse, das Nachholen von Schulabschlüssen, Berufsvorbereitungskurse sowie Aus- und Weiterbildungen angeboten.
Zudem haben wir niedrigschwellige Angebote wie die Fachstelle des Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen. Zu dem Netzwerk gehören sieben Organisationen in Berlin, die unter anderem eine Erstdiagnostik durchführen und die besondere Schutzbedürftigkeit für LSBTIQ+-Menschen, Menschen mit Behinderung, Frauen, Schwangere sowie Minderjährige feststellen. Die Fachstelle im Zentrum ist in diesem Rahmen die Kontakt- und Beratungsstelle für traumatisierte Menschen und Opfer schwerer Gewalt.
Diverses Team als Schlüssel zum Erfolg
Aus welchen Ländern stammen Ihre Patient*innen in der Tagesklinik?
Menschen aus allen Krisengebieten der letzten 30 bis 35 Jahre, die in Reichweite Europas liegen, finden den Weg zu uns. Zum Beispiel aus der Subsahararegion, West- und Ostafrika, dem Nahen Osten, asiatischen Ländern wie Aserbaidschan, Turkmenistan oder Afghanistan und dem Balkan. Im letzten Jahr hatten wir einen deutlichen Anstieg von Anfragen aus Afghanistan und dem Iran, verständlicherweise wegen der Machtübernahme der Taliban und der Proteste im Iran. Solche Ereignisse haben einen direkten Einfluss auf unsere Arbeit. Zurzeit gibt es auch viele Anfragen von Geflüchteten aus der Türkei.
„Die wortgenaue Übersetzung ist nur ein Teil ihrer Arbeit“
Geflüchtete, die in der Tagesklinik behandelt werden, sprechen in der Regel verschiedene Sprachen und kommen aus unterschiedlichen Kulturen und politischen Kontexten. Wie stellen Sie und Ihre Kolleg*innen sich darauf ein?
Wir sind ein ziemlich diverses Team. Das kann zwar noch besser werden, wir haben jedoch Mitarbeitende, die aus Afrika oder Asien stammen, Kolleg*innen, die Französisch, Farsi oder wie ich Arabisch als Muttersprache sprechen. Dies bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für unsere Patient*innen.
Genauso tragen die Kolleg:innen, die hier aufgewachsen sind, mit ihren Erfahrungen viel zum Behandlungskonzept bei. Aber vor allem sind unsere Sprach- und Kulturmittler*innen von enormer Wichtigkeit: Die wortgenaue Übersetzung ist nur ein Teil ihrer Arbeit. Manchmal hat man als Therapeut*in das Gefühl, dass etwas im Verborgenen bleibt, was sprachliche oder kulturelle Gründe haben kann. Die Sprach- und Kulturmittler*innen wissen, wie man sich in den jeweiligen Ländern ausdrückt oder Dinge anspricht und sie können zwischen den Zeilen lesen. Das hilft, um zu verstehen, was in den Patient*innen vorgeht.
Traumafolgestörung – die Gefahr der Abspaltung
Wie schwer tun sich Ihre Patient*innen damit, über Probleme zu reden?
Die meisten haben Schwierigkeiten, das Geschehene in Worte zu fassen, was zum einen mit den traumatischen Ereignissen selbst zu tun hat und zum anderen mit der Art und Weise, wie traumatische Erlebnisse verarbeitet werden.
Zentral ist hier der Begriff der Spaltung. Wenn wir etwas Grauenvolles erleben, versucht unsere Psyche uns zu schützen, indem sie Belastendes abspaltet und beiseite schiebt, um die Überlebensfähigkeit in einem solchen Bedrohungsszenario zu sichern. Das ist ein sinnvoller Prozess, um die Bedrohung zu überstehen.
Aber wenn die Bedrohung vorbei ist und es nicht gelingt, die Erlebnisse in den Rest des psychischen Geschehens zu integrieren, dann bleibt die Abspaltung bestehen. Die Gefahr der Entstehung einer Traumafolgestörung im Sinne einer Posttraumatischen Belastungsstörung ist dann sehr hoch.
„Bilder, die so stark sind, dass die Person das Gefühl hat, das Trauma oder Teile davon erneut zu durchleben“
Welche Symptome sind mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung verbunden?
Ein zentrales Symptom ist das Hyperarousal. Menschen befinden sich in einer permanenten Anspannung gegenüber ihrer Umwelt. Jedes Geräusch, jede Bewegung oder Belastung von außen kann schnell zu einer Reizüberflutung führen.
Das Widererleben ist ein zweiter, sehr wichtiger Faktor. Ausgelöst durch einen Schlüsselreiz, kehrt die traumatische Erfahrung zurück und kontrolliert die Wahrnehmung der Betroffenen. Die häufigste Form sind Flashbacks. Das sind Bilder, die so stark sind, dass die Person das Gefühl hat, das Trauma oder Teile davon erneut zu durchleben, manchmal sogar begleitet von den körperlichen Schmerzen, die mit der ursprünglichen Folter verbunden waren. Die Bilder können im Wachzustand und in Form von Albträumen auftreten.
Ein weiteres Symptom ist Vermeidungsverhalten: Aufgrund der Überflutung an Reizen und der durch den Alltag ausgelösten Flashbacks neigen Betroffene dazu, Situationen zu meiden, die Erinnerungen an das Trauma hervorrufen könnten. Das beeinflusst den Alltag der Menschen erheblich und kann in einigen Fällen zu vollständiger Isolation führen.
Inwiefern machen sich die seelischen Beschwerden auch körperlich bemerkbar?
Verdrängtes Traumamaterial und damit verbundene Gefühlslagen, die nicht rechtzeitig verarbeitet oder geäußert wurden, können schnell in körperliche Beschwerden münden. Viele haben mit Rücken- oder Kopfschmerzen zu kämpfen.
„Vertrauen in die Souveränität des eigenen Körpers zurückzugewinnen“
Zudem kann die Wahrnehmung des eigenen Körpers gestört sein. Immerhin sprechen wir von einem Körper, der einen Übergriff im Sinne von Folter, Menschenhandel oder sexualisierter Gewalt erlebt hat. Gerade bei sexualisierter Gewalt wird der Körper oft als etwas Beschämendes, Verletzliches und Abstoßendes empfunden und nicht als etwas Liebenswertes und Genussvolles.
Vertrauen in die Souveränität des eigenen Körpers zurückzugewinnen und die gegenseitige positive Beeinflussung von Psyche und Körper neu zu erfahren, kann viel zu einem gelungenen therapeutischen Prozess beitragen. Aus diesem Grund sind etwa ein Drittel unserer Therapieangebote körperbezogen. Beispiele hierfür sind Achtsamkeitstraining, Tanztherapie, Sport und Entspannungstechniken.
Methoden und Mittel des Zentrum ÜBERLEBEN
Warum liegt der Fokus in der Tagesklinik auf Gruppentherapien?
Zu uns in die Tagesklinik kommen Menschen, deren Beschwerden chronisch sind und die den Alltag nicht mehr bewältigen können. Der Aufbau von Vertrauen und der Umgang mit anderen Menschen ist für viele eine große Herausforderung. Gruppenangebote haben den Vorteil, dass Schwierigkeiten vor Ort erlebbar sind und eine Intervention direkt möglich ist. Das, was den Menschen draußen im Alltag widerfährt, erleben sie auch in unseren Gruppen, nur dass sie hier therapeutisch begleitet werden und sich in einem geschützten Raum befinden.
Wenn Probleme auftauchen, gibt es die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren und neue Wege zu gehen. Unsere Angebote lassen sich grob in körperbezogene, kreative und sprachbasierte Therapien einteilen. Außerdem bieten wir neben den Gruppentherapien Einzelsitzungen mit Therapeut*innen, Physiotherapie und sozialarbeiterische Sitzungen an. Gerade die Treffen mit den Sozialarbeiter*innen sind sehr wichtig, denn unsere Patient*innen haben nicht nur mit psychischen Belastungen zu kämpfen, sondern ebenso mit der Herausforderung, in einem Land zu sein, in dem sie nicht wissen, wie alles funktioniert.
Wie finden Geflüchtete den Weg zum Zentrum ÜBERLEBEN?
Die meisten Patient:innen werden von ihren Ersthelfer*innen in ihrer Gemeinschaftsunterkunft an uns verwiesen. Krankenhäuser, Ambulanzen, niedergelassene Kolleg*innen, Beratungsstellen oder semiprofessionelle Hilfesysteme schicken ebenfalls viele Menschen zu uns. Es kommt auch vor, dass Betroffene, die Englisch beherrschen, uns im Internet finden. Manche stoßen wiederum über die Community auf uns.
Wie finanziert sich das Zentrum?
Jede Abteilung hat ein eigenes Konzept und eine eigene Finanzierung. Die Tagesklinik hat zurzeit 24 Plätze. Wir sind relativ gut aufgestellt, weil wir kassenfinanziert sind. Jeder, der eine Krankenversicherung hat, kann bei uns behandelt werden. Das deckt zwar nicht unsere Kosten, aber einen guten Teil davon.
Andere Bereiche, wie die ambulante Abteilung, werden gemischt finanziert durch die Kassenärztliche Vereinigung, Projektmittel und Spenden. Das Zentrum Überleben hat einen Etat von 8 Millionen Euro und dieser kommt von allen möglichen Stellen: vom Bund, vom Land, von den Krankenkassen, Bezirken, der Kassenärztlichen Vereinigung, von Privatpersonen und so weiter. Das macht die Sache nicht gerade einfach.
Schlechte psychosoziale Versorgung im ländlichen Raum
Der psychologische Versorgungsbedarf von Geflüchteten ist in Deutschland bei weitem nicht gedeckt. Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?
Wir sind in Berlin so gut aufgestellt wie in keinem anderen Bundesland, aber selbst hier ist die Situation oft prekär. Wenn man sich außerhalb umschaut, ist die Lage zum Teil sogar desaströs. Es gibt ganze Landschaften, in denen es keine Versorgung für Geflüchtete gibt. Aufgrund der Sprachbarriere bleiben diesen Menschen viele Möglichkeiten verschlossen.
Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Seit Jahren wird darauf hingewiesen, dass das Recht auf Behandlung nicht bei der Infrastruktur und dem Vorhandensein von Ärzt*innen, Therapeut*innen und Pfleger*innen aufhört, sondern dass auch die Vermittlung dazugehört. Die Kosten für Dolmetschende werden immer noch nicht übernommen. Es muss eine Gesetzesänderung geben, damit die Krankenkassen diese Kosten tragen.
Diese Missstände betreffen nicht nur den psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich. Es gibt viele Erkrankungen, die übersehen werden und damit unbehandelt bleiben. Bei uns werden oft nebenbei Bluthochdruck, Diabetes und Infektionserkrankungen diagnostiziert. Das läuft völlig unter dem Radar, weil die Menschen keinen ausreichenden Zugang zum Gesundheitssystem haben.
Wie empfinden Sie das medial vermittelte Bild von Geflüchteten angesichts der Geschichten, mit denen Sie tagtäglich konfrontiert werden?
Ich empfinde die Berichterstattung in den Medien als sehr einseitig. Sie wird der Komplexität und Vielfalt dieser Gruppe nicht gerecht. Mein persönlicher Eindruck ist, dass Integration auf die Betroffenen abgewälzt wird. Es schwingt häufig der Vorwurf mit, sie würden sich nicht integrieren und an die Regeln halten.
Ich verstehe Integration anders. Integration ist ein gemeinsamer Prozess. Die Hauptverantwortung liegt aus meiner Sicht allerdings bei den politischen Entscheidungsträger*innen und nicht bei denen, die hier „gestrandet“ und isoliert sind. Hier hat die Politik einiges versäumt.
Der politische Diskurs sollte nicht dahin gehen, dass alle Migrant:innen und Geflüchtete Deutsche werden. Der Fokus sollte viel eher darauf liegen, wie wir eine pluralistische Gesellschaft mit all diesen Unterschieden, aber auch klaren Grenzen, hinbekommen. Aus meiner Erfahrung als Therapeut, der mit sehr diversen Gruppen arbeitet, kann ich sagen, dass das durchaus funktionieren kann.
Mehr zu unserem Fokusthema Gesundheit erfahrt ihr bald im zu.flucht-Podcast, im Online-Magazin und hier in unserem zu.flucht-Newsletter!
Bildquellen
- 2I1A1391: privat