Silvester 2022 und die Integrationsdebatte

Nach Silvester waren die Medien überflutet von Berichterstattungen aus Berlin über junge Männer, die gewaltsam Polizei und Rettungskräfte angegriffen hatten. 145 Menschen wurden in diesem Zusammenhang verhaftet. Der Anteil der Verhafteten mit Migrationshintergrund entfachte die „Integrationsdebatte“ aufs Neue. Doch welche Fragen müssen jetzt wirklich gestellt werden? Hussam al Zaher mit einem Kommentar.

Ende 2022 haben meine Frau und ich entschieden, an Silvester zu Hause zu bleiben. Wir wussten zwar nicht genau, was wir machen wollten, schließlich aber haben wir gemeinsam lecker gegessen und sind dann durch die Stadt spaziert. Meine Frau sagte, lass uns zum Hafen gehen, dort gibt es dieses Jahr viele Feuerwerke zu sehen. Wir sind durch die Schanze, über die Reeperbahn, zum Fischmarkt und danach an der Elbe bis zur Elbphilharmonie spaziert.

Auf dem Weg bemerkten wir, wie viele Hamburger*innen da waren, mit einer ähnlichen Idee. Es waren sehr viele Feiernde und vor allem sehr viele junge Menschen. Viele waren schon ab dem frühen Abend auf der Straße und die Feuerwerke waren überall zu hören. Ich habe selber das erste Mal Silvester auf der Straße gefeiert und ich war sehr überrascht. Es waren viel mehr Menschen als ich erwartet hatte und auch mehr Feuerwerke als ich in den letzten sieben Jahren in Hamburg erlebt habe.

Ich habe mir gedacht, das ist vielleicht, weil viele Hamburger*innen während der Corona-Zeit nicht gefeiert hatten und jetzt alles nachholen wollten. Und ich fragte mich, warum so viele Deutsche das ganze Jahr so vorsichtig und bestimmt auf ihre Regeln achten und dann nur an einem Abend alles vergessen und sogar Kinder Feuerwerke zünden dürfen.

Teilweise war es für meine Frau und mich an den Landungsbrücken zu laut. Aber nachdem wir einen schönen Platz Richtung Baumwall gefunden und das neue Jahr 2023 willkommen geheißen hatten, gingen wir zufrieden nach Hause.

Die Berichte wurden zur Integrationsdebatte

Erst am nächsten Tag hörte ich, dass es viele Angriffe gegen Polizist*innen, Feuerwehr und Krankenwagen gegeben hatte. Meine Social-Media Kanäle zeigten mir vor allem Bilder aus Berlin. Ich war erst nicht ganz überrascht, da ich auch viele alkoholisierte Menschen in großen Gruppen mit sehr lauten Feuerwerken beobachtet hatte.

Was mich etwas mehr überraschte, war wie schnell die Berichte und die Diskussion zu einer Integrationsdebatte wurden. Am 2. Januar sagte unser ehemaliger Gesundheitsminister und heutiger Vorsitzende der CDU Bundestagsfraktion, Jens Spahn bei t-online: „Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat statt um Feuerwerk.“

Der Hamburger CDU Abgeordnete De Vries sagte mit Bezug auf Videos aus der Silvesternacht im NDR (ab 00:34): “Was dort ganz überwiegend zu beobachten ist, sind das junge Männer, junge Erwachsene mit Migrationshintergrund. Und die sahen auch nicht wie Ukrainer aus, oder Menschen die aus Polen kommen, sondern zu vermuten ist, dass es sich vielleicht um Menschen aus dem arabischen Raum handelt, oder vielleicht aus der Türkei.”

Damit wird die Diskussion in eine andere Richtung geschoben. Es geht dann weniger über die Hintergründe der Situation, sondern über die vermuteten nationalen Hintergründe der Menschen. Das Problem wird verschoben und vereinfacht, wenn CDU Abgeordnete das Problem nur noch bei “den Fremden” sehen. Es geht dann nicht mehr um die Komplexität, nicht mehr um das Verhältnis zwischen jungen Menschen und dem Staat. Und es geht bestimmt nicht mehr um langfristige Lösungen. Diese Taktik der CDU (und anderen) ist nicht neu, sondern wiederholt sich immer wieder und wieder. Und viele Medien machen mit.

Copy-and-paste ist kein Journalismus

Dabei ist es noch nicht ganz klar, wer was, wann und wo gemacht hat, oder wie viele der Täter Migrationshintergrund haben. In den Medien war sofort zu lesen, dass es migrantische Männer waren – aber hier sollten wir doch fragen, wer genau? Sind es deutsche Staatsbürger, deren Familien seit Generationen im Land leben? Oder sind es neu zugewanderte? Wie ein Professor für Sozialpsychologie im ZDF sagte: “Migrationshintergrund ist ja kein Merkmal, was die damit gemeinten Menschen vereinheitlicht.”

Nach allem, was ich weiß, sind noch keine vollständigen Statistiken veröffentlicht. Und selbst wenn die Polizei Zahlen veröffentlichen, ist es die Aufgabe von Journalist*innen diese Zahlen zu hinterfragen, zu recherchieren und in einen Kontext zu stellen. Auch in den Zeiten von Twitter-Journalismus sollten wir nicht copy-and-paste von Polizeimeldungen als Artikel veröffentlichen.

Die gestern veröffentlichten Zahlen aus Berlin zeigen, dass 145 Menschen verhaftet wurden und insgesamt 18 Nationalitäten gezählt wurden. 45 der Verhafteten waren deutsche Staatsbürger, 27 afghanische und 21 syrische Staatsbürger. Alle Verhafteten sind wieder freigelassen worden (Stand 04.01.). Es ist noch unklar, wie viele der 145 wegen Angriffen und Gewalt gegen Polizei oder Feuerwehr verhaftet wurden.

Woher kommt die Gewaltbereitschaft gegen Repräsentant*innen des Staates?

Wenn ich nur diese Zahlen sehe, ist schon klar, dass viele junge Männer und viele mit Migrationsgeschichte verhaftet wurden. Aber diese Zahlen sagen mir nicht, ob es sich bei allen Tätern deutschlandweit um eine Mehrheit von Männern mit Migrationshintergrund handelt.  Und noch viel wichtiger: die Zahlen alleine können nicht erklären, warum so viele junge Männer in dieser Nacht gewaltbereit gegen Polizei und Rettungskräfte waren.

Ich finde, dass wir statt einer Wiederholung von “Migration ist die Mutter aller politischen Probleme” darüber sprechen sollten, warum Polizist*innen und andere Repräsentant*innen des Staates für junge Männer ein Feindbild werden. Und zu dieser Frage gehört dazu, dass die Gewalt gegen Beamte und Polizist*innen vor allem nach Corona angestiegen ist. NDR berichtet, dass es in Hamburg in den ersten neun Monaten 2022 mehr Gewalt als 2021 gab. Laut dem Hamburger Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) fehlt es immer mehr an Respekt vor Polizist*innen, vor allem, wenn Menschen wegen Alkohol noch aggressiver werden.

Menschen mit Migrationsgeschichte, mit oder ohne deutschen Pass, sind genauso Teil unserer Gesellschaft, wie Menschen ohne Migrationsgeschichte. Sie haben genauso eigene Erfahrungen, vielleicht mit der Familie, mit dem Bildungssystem, oder mit Diskriminierung gemacht. Die Frage, die ich stellen möchte ist, wie kann der deutsche Staat das Vertrauen von jungen Menschen (egal, wo sie oder ihre Familien geboren sind) zurückgewinnen? Wie können wir als Gesellschaft, wie können die Medien und wie können die Politiker*innen über die wahren, tiefen Gründe der Gewalt diskutieren, um langfristige Lösungen zu finden?

Schlagwörter:
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