6,5 qm Zuhause

Auf einem Parkplatz in St. Georg, im Schatten des grauen HAW-Turms, stehen mehrere regenbogenfarbene Container. In dieser Wohnungslosenhilfe, von der Hamburger Caritas und Studierenden gegründet, finden zehn obdachlose Frauen* eine Unterkunft. Ein Besuch.

6,5 qm Zuhause: Projektleiterin Andrea Hniopek
Fotograf*in: Andrea Hniopek

Zehn Uhr. Der Samstagmorgen beginnt im Containerdorf mit einer Tasse Kaffee. In der Küche im blauen Container klappert Geschirr, der Wasserkocher pfeift. Die Sonne scheint durch die beiden Fenster, Studentinnen kochen Eier, schmieren Brote, füllen den Kühlschrank mit frischen Einkäufen.

Das bunte Containerdorf ist ein besonderer Ort. Er ist Auffangnetz für Frauen*, die kein Zuhause haben. Häufig werden sie über Beratungsstellen vermittelt. Maximal zehn Frauen* belegen die Container – und die sind fast immer voll. Der Bedarf ist riesig. Das Projekt von der Caritas und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften getragen. Im Winter wird das Dorf über das Winternotprogramm finanziert, den Rest des Jahres lebt es von Spenden. Im Coronawinter 2020/21 wurden durch Spenden finanzierte neue Container angeschafft. In Regenbogenfarben. Die seien angenehmer als die grauen Vorgängermodelle, meint Andrea Hniopek, Sozialarbeiterin und Projektleiterin.

Den Kaffee und alle Mahlzeiten können sich die Frauen* am blauen Container abholen, dem „Küchencontainer“. Zusammensein im Container ist wegen Corona nicht möglich. Zu groß ist die Angst vor Ansteckung. Außerhalb des eigenen Zimmers herrscht Maskenpflicht. Dennoch findet man im Containerdorf Nähe. Morgens und abends verteilen HAW-Studierende Mahlzeiten. Jeden Abend wird frisch und warm gekocht. Claudia sagt, dass sie nicht kochen kann, höchstens Toast Hawaii.

Eine ältere Dame mit langen, weißen Haaren stimmt lachend zu. „Kann ich aber auch nicht, gebe ich zu“, schmunzelt sie. Dann holt sie sich ihren Kaffee und kehrt zurück in ihren Container, den grünen. Claudia erzählt uns später, dass diese Bewohnerin ein Alkoholproblem habe. Einige der Frauen* im Dorf konsumieren, erklärt sie. Sofern sie die Utensilien, die sie für den Konsum brauchen, bei sich im Container aufbewahren, habe hier niemand ein Problem damit. Das sei in der Obdach- und Wohnungslosenhilfe keine Selbstverständlichkeit, so Andrea Hniopek. Bei vielen Hilfsangebote ist das Clean-Sein eine Voraussetzung.

Eine Hilfe zur Selbsthilfe

Generell sei eine gewisse Mitwirkungsbereitschaft Bedingung für die Gewährung gesetzlicher Leistungsansprüche. Ziel einer Sozialhilfe ist die Überwindung von bestimmten Problemlagen. Diese entstehen aus der Verknüpfung von besonderen Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten und können nicht selbstständig bewältigt werden. Oft betrifft das Menschen, die dauerhaft unterhalb des Existenzminimums leben oder suchtbedingte körperliche und psychische Probleme haben.

Diese Leistungen nach § 67 SGB XII sind nachrangig gegenüber der Unterstützung anderer Sozialleistungsträger sowie Maßnahmen, wenn diese den Bedarf vollständig decken. Soll heißen: Die Menschen, die potenziell hilfeberechtigt sind, konnten von anderen, vorgeschalteten Maßnahmen keinen Gebrauch machen. Der 67er ist ihre letzte Chance. Und dennoch fallen manche durch das Versorgungsraster.

Problem: Mitwirkungsbereitschaft?

In der Realität haben Betroffene häufig mehrere Bedarfe gleichzeitig. Im Behördendeutsch heißt das dann „mehrfache Problemlage“. Nicht wenige Betroffene haben psychische Krankheiten oder eine Suchtproblematik, was häufig ein Grund für Schwierigkeiten bei der Gewähr von „67erhilfen“ist. Für die Anspruchsgewährung wird ein gewisses Maß an Mitwirkungsbereitschaft der Betroffenen vorausgesetzt.

„Sie schaffen die Hürden in die Einrichtung oft nicht“, sagt Andrea Hniopek. Etwa, wenn eine durch psychische Erkrankungen bedingte Ablehnungshaltung besteht. Oder, wenn Menschen aufgrund einer Suchterkrankung noch nicht bereit sind, ihre Lebensumstände so zu verändern, wie es die Norm aus dem Sozialgesetzbuch vorsieht. Dazu erklärt Andrea Hniopek: „Die sind noch gar nicht so weit. Sie brauchen einfach Zeit, die brauchen Ruhe, Zeit und es braucht die eigene Motivation, was am Leben zu verändern.“

Eine weitere Problematik der Sozialhilfe ist der Aufenthaltsstatus der Betroffenen. Nur Deutsche im Sinne des Gesetzes sowie ihnen gleichgestellte Personen können diese Leistungen in Anspruch nehmen. Ein Umstand, den Andrea Hniopek nicht nachvollziehen kann: „Wohnungslosenhilfe bestehen aber zu zwei Drittel aus Migrant*innen. Und davon hat nur ein ganz geringer Teil diese Gleichstellung mit Deutschen. Das heißt, diese Leute fallen alle raus, obwohl sie die gleichen Schwierigkeiten haben.“

Das Containerdorf macht es anders

Andrea Hniopek sagt, sie fände es nicht richtig, jemandem, der noch nicht bereit für eine grundlegende Veränderung ist, die Hilfe zu verwehren. Im Containerdorf finden die Bewohnerinnen ein Zuhause. Auch die, die keinen Aufenthaltstitel haben. Und sie werden grundlegend mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgt. Auch die, die sonst keinen Anspruch auf Leistungen haben. Das Containerdorf biete einen Schutzraum, hier sind die Frauen* unter sich.

Die Fassade des HAW-Turms neben dem Containerdorf ist grau, der Asphalt ist grau. An diesem verregneten Tag auch der Himmel. Wie kleine Farbkleckse ducken sich die regenbogenfarbenen Container im Schatten des Hochhauses. Vor jedem eine Sitzbank, Blumenbeete zwischen den Wohneinheiten. Die bunte Siedlung ist einladend – auch für Menschen, die hier gar nicht leben. So sei es schon vorgekommen, dass Spaziergänger*innen auf den Bänken verweilen. Viele wüssten gar nichts von der Existenz des Wohnprojekts, sagt Claudia.

Die Containertür führt in einen kleinen Flur, rechts und links ist jeweils ein Zimmer mit eigenem Fenster. Bett, Schrank, Tisch, Stuhl, Lampe. Das ist die Grundausstattung. 6.5qm Zuhause. Der Wasserkocher bleibt Streitgegenstand. Die Brandgefahr durch das Elektrogerät sei groß. Zurzeit darf jede Frau* einen in ihrem Zimmer haben. Um ihn zu benutzen, muss der Stecker, der die Heizung versorgt, ausgesteckt werden. Aber die Frauen* sind kreativ. Jede hat ihr Zimmer individuell eingerichtet und Stauraum bis zur Decke geschaffen.

Ein eigenes Zuhause

Nicoles sonnengelber Container ist warm und gemütlich. Die Künstlerin hat ihn ganz nach ihrem Geschmack mit Gegenständen gefüllt, die den Weg zu ihr gefunden haben. Ein Obstkorb steht unter dem Fenster, wie ein Stillleben. Spiegel, Pflanzen, Tassen, ein Hut – und eine Lampe, die sie mit Perlen verziert hat. Unter ihrem Tisch stapeln sich Bücher und Teetassen. Früher war sie freischaffende Künstlerin, schuf großformatige Airbrushbilder. Seit zehn Jahren hat sie keinen festen Wohnsitz mehr; freiwillig, wie sie sagt. Auch von ihrem Anspruch auf Arbeitslosengeld macht sie keinen Gebrauch. Sie verdient sich etwas Geld in einer Werkstatt hinzu, stellt Schmuck her. Sie sei gern unabhängig, erzählt Nicole. Wann sie weiterzieht, das weiß sie im Gegensatz zu anderen hier schon. Für die nächste Zeit will sie aber im Containerdorf bleiben.

Einige bleiben wenige Tage, andere mehrere Jahre. Das Leben im Containerdorf ist unbefristet. Letzte Woche erst ist ein Zimmer frei geworden. Die Bewohnerin ist eines Abends nicht mehr zurückgekommen. In ihrem Container warten zusammengepackt ihre Habseligkeiten. Ein Sack Kleider. Eine Weste. Eine rote Handtasche. Ihre Dokumente in einer Plastiktüte. Die Bettwäsche wurde schon abgezogen. Ob die Sachen abgeholt werden, ob sie wiederkommt, weiß niemand. Auch das gehört im Containerdorf dazu. Eins ist sicher: Das Zimmer wird nicht lang leer stehen, der Bedarf ist groß. Claudia erzählt, dass die wenigsten Frauen nach ihrem Aufenthalt in eine eigene Wohnung ziehen. Die meisten finden Unterschlupf in anderen Hilfseinrichtungen oder kehren zurück in ein Leben auf der Straße.

Morgenzigarette

Langsam wacht das Dorf auf und geselliges Zusammensein vor dem blauen Container beginnt. Anka, eine Frau aus Bulgarien, schleicht noch etwas müde in pinkem Bademantel und Schuhen zum lilafarbenen Container rüber. Da sind die Bäder untergebracht. Jeweils fünf Frauen* teilen sich eins. Neu sind die Analduschen an den Toiletten. Einige der Frauen* gehen der Sexarbeit nach, da ist die beim Frischmachen praktisch. „Vorher haben sie die Duschköpfe geklaut und ich habe nie verstanden, warum“, lacht Claudia.

Treffpunkt für die Raucherinnen ist der Aschenbecher neben dem Wäschehäuschen. An dem schwarz-weißen Kabuff hängt ein Briefkasten mit den Namen aller Bewohnerinnen. Hier im Containerdorf ist ihr Zuhause, sie können Post empfangen, haben eine eigene Adresse. Anka erzählt Claudia von ihrem Vater, der in der Heimat im Krankenhaus liegt. Ankas andere Heimat ist hier, im Containerdorf. Zumindest für die nächste Zeit.

Jennifer

Eine elegante, großgewachsene Frau mit Perlenkette, rotem Nagellack und Lippenstift gesellt sich zu den Raucherinnen. „Claudia only comes back because she misses us so much“, witzelt sie, während sie sich eine Zigarette anzündet. Sie heißt Jennifer. Ausschweifend erzählt sie von ihren Abenteuern in einem Van in Thailand, da habe sie acht Jahre lang gelebt. Und von ihrem Kumpel, einem talentierten, aber unterschätzten Comedian.

„The weather forecast is shit“, beschwert sie sich. Wegen des angekündigten Regens, der dann doch nicht kam, hat sie einen Arbeitstag verloren. Sie spielt Gitarre. Mal in Clubs, mal auf der Straße. Die Clubgigs sind seit der Pandemie rar geworden. „What do the French say? The more things change the more they stay the same“, flucht sie. „The rich get richer, the rest still struggles.“ Ihr Standardplatz ist jetzt unter der Schanzenbrücke, da könne sie aber im Moment nicht hin, weil sich dort Bettelnde niedergelassen haben. Heute wird sie es in der Schanzenstraße versuchen. Vielleicht hat sie Glück und es kommen mehr Passanten*innen vorbei. Sie schwingt ihren Gitarrenkoffer auf den Rücken, nimmt noch einen letzten Zug von ihrer Zigarette und macht sich auf den Weg. „Nice meeting you“, ruft sie über ihre Schulter zurück. Ihre schillernde Persönlichkeit wirkt viel zu groß für ihren kleinen Container, den grünen.

Aida

Aida lebt im roten Container. Sie ist 35, geboren im Iran, studierte und arbeitete dort als Buchhalterin. Die Liebe, das Leben, die Pandemie. Verschlungene Pfade führen sie nach St. Georg, in ihren Container.

Im Iran lernt sie ihren ersten Ehemann kennen. Aufgrund internationaler Embargos gegen das Land gehen dem Arbeitgeber ihres Mannes die Aufträge aus. Um Arbeit zu finden, ziehen die beiden nach Deutschland. Aber die Ehe geht in die Brüche und Aida kehrt zu ihrer Familie in den Iran zurück.

Sie verliebt sich neu, bekommt eine kleine Tochter mit ihrem neuen Partner. Als das Kind sechs Monate alt ist, stirbt der Vater des Mädchens. Die Situation veranlasst sie, nach Deutschland zurückzukommen.

Aida arbeitet hier zunächst in der Kinderbetreuung, lebt allein in einer Mietwohnung, alles läuft nach Plan. Dann kam Corona. Aida verliert erst ihren Job und dann ihre Wohnung. Für einige Wochen kommt sie bei einer Freundin unter. Als diese wegzieht, hat Aida keine Bleibe mehr. Eine Beratungsstelle vermittelt sie ans Winternotprogramm. Aida teilt sich mit drei ihr fremden Frauen ein Zimmer. Sie erzählt, dass sie sich unsicher gefühlt habe, es sei oft zu Konflikten gekommen. Ihrer Familie im Iran erzählt sie nichts von ihrer Situation.

Sommer 2021

Ajdas nächste Station: Ein Projekt vom Roten Kreuz, in dem sich die Menschen um obdachlose Frauen kümmern. 50 Frauen in einem Schlafsaal. Aida fühlt sich wohl, will wieder auf die Beine kommen. Sie sucht sich einen neuen Job. Einige Frauen in der Moschee, die sie besucht, vermitteln ihr Schüler*innen, denen sie für kleines Geld Arabisch beibringt. Mit dem Verdienst kann sie sich etwas Handyguthaben kaufen, um mit ihrer Familie im Iran zu sprechen. Ab und zu kann sie zu Mittagvessen, doch für eine Wohnung reicht es nicht. Immerhin wurde ihr Aufenthaltstitel erneut für sechs Monate verlängert. Aida plant in Intervallen, immer sechs Monate. Immerhin kann sie in Deutschland bleiben.

Es ist Sommer geworden. Das DRK-Projekt steht vor dem Aus. Das Winternotprogramm hat noch nicht begonnen. Wohin soll sie gehen? Eine junge Frau aus Polen, die sie beim DRK kennengelernt hat, und Aida tun sich zusammen. Einen festen Schlafplatz haben sie nicht. So ziehen die beiden in ein Waldstück in Niendorf, schlafen in einem Zelt auf dem Waldboden. Zum Duschen fahren die beiden in die Stadt. Die Nächte im Wald machen Aida zu schaffen. Sie berichtet von Albträumen, Angst. Überanstrengt vom Hausen im Wald, beschließt Aida, in der Stadt einen Schlafplatz zu finden. Wechselnde Schlafplätze, weitere schlaflose Nächten.

So verschieden die Frauen* und ihre Geschichten sind, ihre Wege kreuzen sich im bunten Containerdorf. Und so leben sie eine Zeit lang als Nachbarinnen zusammen, in ihrem kleinen Zuhause. Bis sich ihre Wege trennen. Irgendwann.

 

Mehr über das Thema Obdachlosigkeit und das Containerdorf kannst du in der neuen Folge des multivitamin-Podcasts hören! Der Artikel ist gemeinsam mit Valeria Bajaña Bilbao entstanden.

Multivitamin-Podcast: Wohnungslosigkeit & Migration

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Anna ist zum Jurastudium aus Bayern nach Hamburg gezogen. Nebenbei arbeitet sie in einer Stiftung zu Themen des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

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