Rettung bei Seenot ist Pflicht

Während im Mittelmeer Hunderte Menschen auf der Flucht allein in den letzten Tagen in Seenot geraten sind und bereits gestorben oder noch vermisst werden, schaut die Welt Richtung Atlantik: Dort wird ein Tauchboot mit 5 Menschen an Bord vermisst

Fotograf*in: Vedang Tandel auf Unsplash

Letzte Woche habe ich von Pushbacks der EU und einem Fischerboot berichtet, das mit ungefähr 750 flüchtenden Menschen an Bord im Mittelmeer gekentert ist. Mehr als 500 Menschen sind ertrunken. Die griechischen Behörden haben von dem Boot gewusst, aber nichts getan. Derzeit wird geprüft, ob die Küstenwache das Boot sogar zum Kentern gebracht hat. Genau eine Woche später, diese Woche Mittwoch, ist ein Schlauchboot mit vermutlich 59 Flüchtenden vor den Kanarischen Inseln in Seenot geraten. Die NGO Walking Border berichtet, dass die Menschen mehr als 12 Stunden um Rettung gebeten haben. Es gab mehr als 30 Tote. 5 weitere Boote sind gerade in Seenot. Doch das bekommt gerade niemand wirklich mit.

Die „Titan“

Denn: Seit Sonntag wird das Tauchboot “Titan” vermisst, das sich mit fünf Menschen an Bord auf dem Weg zum Wrack der Titanic befand. Ein Großaufgebot der amerikanischen und kanadischen Marine und der Küstenwache, ein kanadisches Aufklärungsflugzeug der Luftwaffe, ein französisches Spezial- und Forschungsschiff sowie private Schiffe beteiligen sich an der Suche. Während erneut Menschen auf der Flucht ertrunken sind, verfolgt ganz Europa die Suche nach dem Tauchboot – teilweise im Live-Ticker. Nachrichtenformate sind voll mit der Berichterstattung, auf Twitter gibt es alle paar Sekunden ein neues (unangemessenes) Meme und selbst TikTok ist voll mit Content dazu.

Dieser Vergleich soll die Situation der fünf Menschen an Bord des Tauchbootes keinesfalls kleinreden. Es muss furchtbar sein, in einer kleinen Stahlkugel am Meeresgrund gefangen zu sein und zu wissen, dass einem die Zeit davon läuft. Aber dieses Mitgefühl müssen wir auch mit Menschen haben, die vor Krieg, Hunger und Verfolgung flüchten und sich dafür in lebensbedrohliche Situationen begegeben, wie die Flucht in einem meist seeuntüchtigen Boot. Dieses Mitgefühl kann nur entstehen, wenn man die Schicksale der Betroffenen kennt.

Empathie und Sensationsgier

“In dem Moment, wenn ich Informationen über eine Person habe, erzeugt das dieses Gefühl des Kennens, Sichnäherstehens. Und das erhöht das Mitgefühl”, bestätigt die Psychologin und Neurowissenschaftlerin des Uniklinikums Würzburg Grit Hein gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.

Diese Empathie nimmt zu, je stärker man sich mit der betroffenen Person identifizieren kann, so Grit Hein. Über Katastrophen wie in Griechenland, vor den kanarischen Inseln oder auch vor der italienischen Küste im Februar mit 90 Toten wird in den Medien eben anders berichtet. Die zahlreichen ertrunkenen Flüchtenden scheinen eine Masse zu sein, zu unpersönlich und zu zahlreich, um als Nachrichtenkonsument*in mit den Emotionen überhaupt klarzukommen.

Menschen interessieren sich außerdem besonders für das Sensationelle. Grit Hein sagt: “Es gibt sicherlich das Phänomen, dass Mitgefühl sich abnutzt, und das hat teilweise natürlich auch seinen Grund. Im Vergleich dazu ist diese U-Boot-Situation schon recht einzigartig, weckt erstmal die Aufmerksamkeit, und ist etwas, womit wir uns zunächst auch intensiver auseinandersetzen.”

Wir konsumieren nicht nur mehr Nachrichten, wenn wir etwas Sensationelles lesen, hören oder sehen könnten – wir vermeiden sogar Nachrichten, wenn wir sie als bedrückend wahrnehmen: Die deutsche Teilstudie des Reuters Institute Digital News Report 2022 vom Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg zeigt, dass 65 % der erwachsenen Internetnutzenden Nachrichten gelegentlich vermeiden, jede*r 10. sogar oft. Laut des Berichts liegt das an negativ empfundene Themen wie Politik, die sich zudem auf die Stimmung der Rezipient*innen auswirken.

Seenotrettung als politische Ansichtssache

Warum die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl in diesen unterschiedlichen Situationen auch so verschieden ausfallen, liegt also an uns als Gesellschaft und der medialen Berichterstattung. Doch auch die Politik geht mit beiden Extrema tatsächlich extrem unterschiedlich um: Die fünf Männer an Bord des Tauchbootes, die viel Geld gezahlt haben, um – freiwillig – in die “Titan” zu steigen und über die möglichen Risiken Bescheid wussten, werden tagelang und mit vielen Ressourcen gesucht. Und zum Anderen geraten jährlich Tausende Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer in Seenot und ertrinken. Verantwortung dafür trägt die EU, die durch ihre abschottende Asylpolitik in Notsituationen nur zögerlich reagiert, mit Pushbacks Flüchtende in Gefahr bringt und die zivile Seenotrettung kriminalisiert. 

Für Seenotrettung sollte man kein Mitgefühl brauchen, sie sollte nicht davon abhängen, wie sehr man sich mit einem Menschen in einer Notsituation identifizieren kann. Seenotrettung ist eine Pflicht, der man nachgehen muss – egal, ob ein Tauchboot auf dem Weg zur Titanic oder ein Fischerboot mit Menschen auf der Flucht in Seenot gerät.

Bildquellen

Schlagwörter:
Natalia ist in den Bereichen (Mode-)Journalismus und Medienkommunikation ausgebildet und hat einen Bachelor in Management und Kommunikation. Derzeit studiert sie Digitalen Journalismus im Master. Besonders gerne schreibt sie über (und mit!) Menschen, erzählt deren Lebensgeschichten und kommentiert gesellschaftliche Themen. Sie leitet die Redaktion und das Schreibtandem von kohero. „Ich arbeite bei kohero, weil ich es wichtig finde, dass die Geschichten von Geflüchteten erzählt werden – für mehr Toleranz und ein Miteinander auf Augenhöhe.“     (Bild: Tim Hoppe, HMS)

Zum Abo: 

Mit deinem Abo können wir nicht nur neue Printausgaben produzieren, sondern auch unsere Podcasts und das Online-Magazin weiter kostenlos anbieten.

Wir machen Journalismus, der zugänglich für alle sein soll. Mit dem Rabattcode koherobedeutetZusammenhalt kannst du einzelne Ausgaben günstiger bestellen. 

Italien ruft Notstand aus: hohe Migrationszahlen

Vor knapp einem Monat habe ich einen Beitrag für unsere wöchentliche Kolumne kommentiert über den Umgang der italienischen Regierung mit der Seenotrettung Flüchtender geschrieben. Zwei Wochen vorher hat Hussam ein Unglück auf dem Mittelmeer kommentiert. In Italien hat die Regierung nun wegen der hohen Anzahl Flüchtender den Notstand ausgerufen. Hier kommt also Europas Versagen beim einheitlichen Vorgehen mit Migration Teil 3. Rund 31.000 Menschen sind seit Januar dieses Jahres über das Mittelmeer nach Italien geflüchtet. Doch im gleichen Zeitraum sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mindestens 441 Menschen auf dieser Route gestorben – so viele wie seit 2017 nicht mehr. Die IOM macht Verzögerungen bei staatlichen Rettungsmaßnahmen und die Behinderung der Such- und Rettungsaktionen von NGOs für diese Tode verantwortlich, kurz: die europäische Abschottungspolitik. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni reagiert auf die hohen Zahlen mit dem Ausrufen eines sechsmonatigen Notstandes im Land. Allein über die Osterfeiertage kamen nach Angaben der Behörden etwa 2.000 Menschen auf der Insel Lampedusa an. Nun soll ein*e Sonderbeauftragte*r ernannt werden, dem 5 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Das Aufrufen des Notstandes ermöglicht der Regierung außerdem, Maßnahmen ohne parlamentarisches Prozedere durchzusetzen. Wie der Spiegel berichtet, sollen damit neue Aufnahmezentren für die ankommenden Menschen gebaut werden. Ein gutes Signal – oder? Aus Regierungskreisen heißt es dagegen, so die tagesschau, dass die Verordnung des Notstandes genutzt werde, um Abschiebungen unbürokratisch und schneller durchzuführen. Welcher Ausgang wahrscheinlicher ist, zeigt wohl schon die Rechtsorientierung der italienischen Regierung. Bereits in ihrem Wahlkampf warb Giorgia Meloni damit, die Zuwanderung nach Italien einzudämmen. Dass von dem Geld aus dem Notstandsfond also geflüchtete Menschen profitieren, ist wohl unwahrscheinlich. Solange es Fluchtgründe gibt, werden Menschen flüchten Doch in Teilen ist Italiens Vorgehen verständlich. Länder wie Italien und Griechenland, in denen die meisten geflüchteten Menschen in der EU ankommen, werden sich selbst überlassen. Wie

Weiterlesen …
Ukraine

War in Ukraine: double standards in dealing with crises

Civilized refugees“, „blonde and blue-eyed refugees“, „white and Christian Ukrainian refugees“ and „relatively civilized Ukraine compared to Afghanistan and Iraq“ are statements by journalists, broadcasters and analysts that have apperead in the media in relation to the war in Ukraine. In addition, students from Africa and India have reported discrimination at the Ukrainian border. All of this shows the double standards in dealing with humanitarian crises in Europe.   Freedom Fighter or Terrorist Pictures from Ukraine have shown how people there are committed to defending their country. For this, they posted their photos with weapons on social media to spread the image of resistance. Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy and members of the Ukrainian Parliament did the same. These armed people are known everywhere and they get solidarity and understanding from all over the world. Because they are the heroes who defend their country against the Russian enemy. In that moment everyone realized that every people has the right to use violence in the face of enemies who want to sabotage their country and control their savings. Everyone understood that diplomacy does not work in the face of an armed threat. Therefore, there is no doubt that the international community has interacted with Ukraine from a rational point of view. In this case, the question arises: if these scenes took place in any of the Middle Eastern countries, would people with guns be considered heroes defending their country? Or would they be terrorists who only understood the language of guns? As a Palestinian, I always try to focus on the humanitarian issues when I cover something in Palestine/Israel or in Syria. Because I know that military issues do not help me to create a correct picture of the conflict in the  Western media. Because I also know that military conflicts do

Weiterlesen …
Karneval in Rio - die Perkussion bleibt kalt

Karneval in Rio – die Perkussion bleibt kalt

Rio de Janeiro befindet sich in einer äußerst angespannten wirtschaftlichen Situation und kann eigentlich auf keinen Fall auf den Umsatz des Karnvals verzichten. Im letzten Jahr setzte der Karneval allein in Rio de Janeiro etwa 400 Millionen Euro um. Die Hotels meldeten fast 100% an belegten Kapazitäten während der Festwoche – was auch sehr viele wertvollen Jobs bedeutet. Das gleiche gilt für die Gastronomie der Stadt. Etwa 10.000 Menschen wurden als Straßenverkäufer akkreditiert. Aber die aktuelle Situation zwingt diese gigantische und komplexe Infrastruktur des Karnevals auf die Knie. Und die Perkussion bleibt kalt.

Weiterlesen …
Kategorie & Format
Natalia ist in den Bereichen (Mode-)Journalismus und Medienkommunikation ausgebildet und hat einen Bachelor in Management und Kommunikation. Derzeit studiert sie Digitalen Journalismus im Master. Besonders gerne schreibt sie über (und mit!) Menschen, erzählt deren Lebensgeschichten und kommentiert gesellschaftliche Themen. Sie leitet die Redaktion und das Schreibtandem von kohero. „Ich arbeite bei kohero, weil ich es wichtig finde, dass die Geschichten von Geflüchteten erzählt werden – für mehr Toleranz und ein Miteinander auf Augenhöhe.“     (Bild: Tim Hoppe, HMS)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kohero Magazin