Seenotrettung und Europas Versagen

Schon wieder kam es zu einem Bootsunglück im Mittelmeer, 30 Menschen werden vermisst. Erst vor zwei Wochen starben 79 Flüchtende nahe der italienischen Küste auf See. Und die europäische Politik? Die schaut zu. Natalia Grote kommentiert.

Europaparlament in Straßburg

Nach dem Bootsunglück im Mittelmeer mit mindestens 79 Toten am 26. Februar (kohero berichtete) ist die Empörung in Europa weiterhin groß. Etwa in Kalabrien, wo das Unglück nur wenige Kilometer entfernt von der Küste geschah, gingen mehrere Tausend Menschen auf die Straße und forderten Aufklärung und Solidarität mit den Opfern. Zu recht fragen sie: Wie kann zugelassen werden, dass so viele Menschen sterben? Und wie will Europa sowas zukünftig verhindern?

Das Schlimme an der Situation ist nicht nur, dass unzählige Menschen gestorben sind, sondern auch, dass ein Unglück dieses Ausmaßes wahrscheinlich hätte verhindert werden können. Die italienischen Behörden hätten von dem Boot gewusst, aber nichts unternommen. Doch das Auslassen von Hilfe reiht sich in die Linie der zuvor erlassenen Regelungen von Innenminister Matteo Piantedosi ein, die die Seenotrettung durch NGOs erschweren.

Die Antwort auf die zweite Frage – wie solche Tragödien verhindert werden sollen – beantworte ich an dieser Stelle einfach mal selbst: Anscheinend gar nicht. Innerhalb von zwei Wochen kam es erneut zu einem Bootsunglück, dieses Mal werden 30 Menschen vermisst. Dass sie noch leben, ist unwahrscheinlich. Das Boot war auf dem Weg von Libyen nach Italien.

Und auch hier wurden die italienischen Behörden laut der Hilfsorganisationen Alarm Phone und Seawatch informiert, doch diese verwiesen auf die libysche Küstenwache. Auch diese blieb tatenlos. Erst einen Tag später ordnete Italien einige Handelsschiffe an, an die Unglücksstelle zu fahren. Doch auch diese unternahmen keine Rettungsaktionen.

Die unkonstruktive Frage nach Schuld

Da immer erst große Katastrophen passieren müssen, um sich auf politischer Ebene an Themen wie Seenotrettung zu erinnern, hat sich inzwischen nicht nur die rechte italienische Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit einer Aufarbeitung befasst. Italien selbst schiebt die Verantwortung von sich und fordert Unterstützung der anderen EU-Länder.

„Illegale Einwanderung“ müsse gestoppt werden, um dadurch weitere Tragödien im Mittelmeer zu verhindern, so Meloni in einem Schreiben. Was für ein Plan! Genau so wenig konstruktiv war auch die Versammlung der Abgeordneten im Europaparlament am Mittwoch. Sie haben sich über das Versagen der italienischen Behörden, das Unglück an sich oder Seenotrettung insgesamt empört und in der Schuldfrage mit Fingern aufeinander gezeigt. Zum 5. Mal hat das Europaparlament über Seenotrettung und ein mögliches einheitliches Vorgehen dabei zu diskutieren.

Trotz aller Empörung kamen die Abgeordneten mal wieder nicht zu einem Ergebnis. Die irische Abgeordnete Grace O’Sullivan bringt die Lage bei ihrer Rede im Europaparlament auf den Punkt: „Die Rettung von Menschenleben auf See ist eine Pflicht. Und Europa versagt bei der Einhaltung dieser Pflicht.”

Vor zwei Wochen hat Hussam in unserer Kolumne das Bootsunglück vor der italienischen Küste kommentiert und nach dem politischen Willen gefragt. Dieses zweite Unglück in so kurzer Zeit und die Argumentation im Europaparlament und auch beim Treffen der Innenminister*innen am Donnerstag lässt eine Antwort vermuten: Bis auf wenige Ausnahmen gibt es keinen politischen Willen, eine “staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer” anzugehen.

Nicht mal, nachdem allein im letzten Jahr rund 2.400 Menschen auf dieser Fluchtroute gestorben sind. Nicht mal jetzt.

Von Solidarität wird nur geredet

Die EU fährt nach wie vor eine Abschottungspolitik, Tote werden hingenommen. Politiker*innen, besonders aus der rechten Ecke, argumentieren dabei gerne, dass Seenotrettung ein Pull-Faktor von Migration sei. Wenn Menschen auf der Flucht gerettet werden, würde das nur weitere Flüchtende motivieren, so der rechtspopulistische Jörg Meuthen im Europaparlament. Belege hat er für diese Behauptungen nicht. Die Flucht nach Europa dürfe keineswegs attraktiv erscheinen – außer für Menschen aus der Ukraine. In einer Stellungnahme zu Beginn der Innenminister*innen-Konferenz zum Thema europäische Migrationspolitik hat Nancy Faeser fast ausschließlich über Flucht aus der Ukraine gesprochen. Mit den Opfern des Bootsunglücks müsse man sich natürlich trotzdem solidarisieren. Doch bei dem ganzen Gerede von Solidarität wird das Handeln außer Acht gelassen.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Kollegin Emily, die bei uns die migrations-news, unseren wöchentlichen Nachrichten-Newsletter, schreibt. Uns fiel auf, dass wir fast jede Woche über Seenotrettung und Menschen schreiben, die auf der Flucht im Mittelmeer gestorben sind. Doch so wie sich Politiker*innen zu den Tragödien äußern und bei den Maßnahmen, die derzeit ergriffen werden – nicht nur in Italien – wird sich nichts ändern.

Wenn EU-Länder Migration mit allen Mitteln begrenzen wollen, werden weiterhin Menschen sterben. Zahlreich. Menschen fliehen nicht aus ihrer Heimat, weil sie es in Europa so leicht haben, hier alles besser ist und die Fahrt über das Mittelmeer in einem überfüllten Boot nach einem spannenden Abenteuer klingt. Menschen fliehen, weil in ihrem Heimatland Krieg, Krisen oder andere Katastrophen herrschen. Sie fliehen, weil jeder Mensch ein sicheres Zuhause braucht. Daran wird die europäische Politik nichts ändern können.

 

Photo by nasim dadfar on Unsplash

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Kategorie & Format
Natalia ist in den Bereichen (Mode-)Journalismus und Medienkommunikation ausgebildet und hat einen Bachelor in Management und Kommunikation. Derzeit studiert sie Digitalen Journalismus im Master. Besonders gerne schreibt sie über (und mit!) Menschen, erzählt deren Lebensgeschichten und kommentiert gesellschaftliche Themen. Sie leitet die Redaktion und das Schreibtandem von kohero. „Ich arbeite bei kohero, weil ich es wichtig finde, dass die Geschichten von Geflüchteten erzählt werden – für mehr Toleranz und ein Miteinander auf Augenhöhe.“     (Bild: Tim Hoppe, HMS)

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