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Was ist mit den unter Assad verschwundenen Kindern passiert?

Erschütternde Wahrheiten kommen über eines der grausamsten Kapitel Syriens ans Licht: Zwischen 2013 und 2021 wurden tausende Kinder politischer Gefangener systematisch von ihren Familien getrennt und unter falscher Identität versteckt.

Fotograf*in: pexels

Nach dem Sturz des Assad-Regimes Ende letzten Jahres steht die syrische Übergangsregierung vor einer enormen Herausforderung: Sie hat ein düsteres Erbe übernommen – Kriegsverbrechen, Folter und dem Verschwindenlassen von Zehntausenden Menschen. Zu den dringendsten Aufgaben der neuen Behörden gehört nun die Aufklärung des Schicksals der Vermissten.

Unter ihnen sind Tausende Kinder, die von ihren Familien getrennt und in staatliche Einrichtungen gebracht wurden. Viele dieser Heime verweigern bis heute jede Kooperation. Saad al-Jabri, Sprecher des Ministeriums für Soziales und Arbeit, bestätigte die Existenz von Aufzeichnungen, die auf die Überstellung von rund 300 Kindern in vier große Heime in Damaskus hinweisen. Doch viele offizielle Dokumente seien inzwischen verloren gegangen oder gezielt vernichtet worden. „In einigen Fällen kennen wir nicht einmal die echten Namen dieser Kinder“, sagte al-Jabri.

Sozialministerin Hind Qaboat hat eine Untersuchung zur Verschleppung der Kinder eingeleitet. Erstmals wurden dabei auch hochrangige Vertreterinnen des alten Regimes festgenommen: Kinda al-Shammat und Rima al-Qadri, die zwischen 2013 und 2020 das Sozialministerium leiteten. Ihnen wird vorgeworfen, an der Entführung von rund 3.700 Kindern beteiligt gewesen zu sein. Auch Mitarbeitende aus Einrichtungen wie dem „Lahn al-Hayat“-Komplex in Damaskus und der „Al-Mabarra-Vereinigung“ wurden verhaftet. Die derzeitige Leiterin von „Lahn al-Hayat“, Mais Ajib, gilt als Zeugin – sie trat ihr Amt erst kurz vor dem Regimewechsel an.

Gerichtsdokumente und Zeugenaussagen aus Waisenhäusern deuten darauf hin, dass viele Kinder auf direkte Anweisung der Ministerinnen und Sicherheitsdienste in Heime oder sogar Privathäuser von Offizieren gebracht wurden. Ihre Identitäten wurden systematisch verschleiert – unter anderem durch geheime Erlasse des Ministeriums.

Eine staatliche Kommission untersucht derzeit das Schicksal von bis zu 5.000 Kindern. Die Enthüllungsplattform Zaman al-Wasl veröffentlichte eine Liste von 21 verschwundenen Kindern sowie Dokumente, die eine Beteiligung von Sicherheitsdiensten an der Verbringung von 300 Mädchen in Offizierswohnungen belegen. Durchgesickerte Akten belegen zudem eine enge Zusammenarbeit des Sozialministeriums mit verschiedenen Sicherheitsorganen, dem Innenministerium und Führungspersonen wohltätiger Organisationen. Es wurde bestätigt, dass Asma al-Assad, die Ehefrau des gestürzten Präsidenten, persönlich Einsicht in die Akten der betroffenen Kinder nahm.

Menschenrechtsorganisationen fordern unabhängige internationale Ermittlungen. Katherine Bomberger von der Internationalen Kommission für Vermisste warnte: „Das Versagen bei der Aufklärung des Schicksals dieser Kinder stellt eine echte Gefahr für Syriens Zukunft dar und könnte neue Runden der Gewalt nähren.“ Sie fügte hinzu: „Die Syrer müssen wissen, dass diese Akte nicht still beerdigt wird.“

Internationale Organisationen unter Verdacht

Die „SOS-Kinderdörfer“, eine internationale Organisation mit Hauptsitz in Österreich, eröffnete 1981 ihre erste Niederlassung in Damaskus. Nach eigenen Angaben auf ihrer offiziellen Website „arbeitet sie daran, familiäre Betreuung für Waisen und Kinder ohne familiäre Fürsorge zu bieten“. Die Organisation gab zu, zwischen 2014 und 2019 insgesamt 139 Kinder ohne Dokumente und offizielle Aufzeichnungen aufgenommen zu haben, von denen die meisten an die Assad-Behörden zurückgegeben wurden. In einer offiziellen Erklärung bestätigte die Organisation: „Kinder, die während des syrischen Konflikts von ihren Familien getrennt wurden, wurden von den Behörden ohne Dokumentation ihrer Herkunft in unsere Obhut gegeben. Diese Zwangseinweisungen ereigneten sich bis 2019, danach forderten wir die Behörden auf, keine Kinder mehr ohne Dokumente zu schicken.“

Bara’a al-Ayoubi, Direktorin des „Dar al-Rahma für Waisen“, gestand in Fernsehinterviews mit arabischen und türkischen Sendern, dass zwischen 2015 und 2024 100 Kinder von Häftlingen in der Einrichtung untergebracht waren. Nur 24 Kinder kehrten zu ihren Familien zurück. Die Sicherheitsdienste sandten sie aus den Kellern der Geheimdienstzweige mit geheimen Memoranden an das Ministerium für Soziale Angelegenheiten und Arbeit, das sie an Waisenhäuser überwies – mit geänderten Namen und ohne Besuchserlaubnis für Familienmitglieder ohne schriftliche Genehmigung des Ministeriums. Al-Ayoubi führte die Unterbringung der Kinder und ihre Nichtrückgabe an die Familien darauf zurück, dass Vater, Mutter oder ein Familienmitglied von den Sicherheitsbehörden gesucht wurde – eine Methode des Drucks zur Selbstauslieferung.

Das Schicksal der Familie Yasin

Eine der erschütterndsten Geschichten ist die der syrischen Ärztin und Schachweltmeisterin Rania al-Abbasi. Im März 2013 durchsuchte der syrische Militärgeheimdienst ihr Haus, verhaftete ihren Ehemann Abdul Rahman Yasin und kehrte zwei Tage später zurück, um sie selbst und ihre sechs Kinder im Alter zwischen einem und 14 Jahren zu verhaften. Seitdem sind die Kinder spurlos verschwunden. Mittlerweile sind es zwölf Jahre und sie suchen immer noch nach Antworten.

Nach dem Fall des Assad-Regimes kehrte die Tante der Kinder, Naila al-Abbasi, zum ersten Mal seit Kriegsbeginn nach Damaskus zurück, um die Akte ihrer Schwester wieder zu öffnen. Sie betrat das verlassene Familienhaus, wo sie die Gegenstände der Kinder unverändert vorfand, Schulhefte lagen noch offen auf den Schreibtischen, als wäre die Zeit im Moment der Verhaftung stehen geblieben. An den Hauswänden verbliebene Spuren der Kinder. In Najats Heft, der ältesten Tochter, stand noch handgeschrieben: „Wir bleiben in Syrien, bis du gehst, Bashar.“ Die Zigarettenstummel in den Ecken waren die einzigen Zeugen der Razzia der Sicherheitskräfte.

Trotz aller Enttäuschungen besteht Familie Yasin darauf, die Suche fortzusetzen. Naila sagt: „Egal wie die Wahrheit aussieht, wir wollen sie wissen. Wenn sie am Leben sind, werden wir sie zurückholen. Und wenn sie Märtyrer sind, dann sollen sie ein Grab haben, auf das wir eine Blume legen können.“

Die Aufdeckung dieses systematischen Verbrechens gegen syrische Kinder ist nicht nur ein Schritt zur Gerechtigkeit, sondern auch ein notwendiger Prozess der Wahrheitsfindung für ein Land, das versucht, sich von Jahren der Unterdrückung und des Terrors zu erholen. Das Schicksal der verschwundenen Kinder bleibt eine offene Wunde, die nur durch vollständige Aufklärung und Gerechtigkeit heilen kann.

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